Insgesamt fiel Allemanns Bilanz eher negativ aus. Er prophezeite der Bundesrepublik eine schwere Anpassungskrise, falls Adenauer überraschend sterben würde. 44Eine Gelegenheit zur empirischen Überprüfung seiner düsteren Prognosen erhielt der schweizerische Journalist allerdings nicht. Der Kanzler erholte sich im November 1955 zusehends, hatte die Wochenschau sogar ausnahmsweise im Krankenzimmer filmen lassen, um aller Welt seinen Genesungsprozess vor Augen führen zu können. 45
Am Mittwoch, dem 24. November – und dem Tag der wöchentlichen Kabinettsitzung –, nahm Adenauer in Bonn wieder die Regierungsgeschäfte auf. In einer kurzen Ansprache im Rundfunk dankte er Alt und Jung in der Bevölkerung für die rege Anteilnahme, dankte ausdrücklich auch den »Zurückgekehrten aus der Sowjetunion und ihren Angehörigen« für die zahlreichen Genesungswünsche. 46Ein kluger propagandistischer Schachzug. Nichts hatte seine Popularität mehr gefördert als die Bilder von den heimkehrenden Kriegsgefangenen; ihre Freilassung bewerkstelligt zu haben rechnete man ihm allenthalben als große Leistung an. Verwies er also in seiner Rede auf die ausgelösten Gefangenen, konnte er hoffen, weiterhin die Welle der Zustimmung für seine Person und Politik zu mobilisieren.
Dies zu versuchen, besaß er allen Grund. Dazu brauchte er, der sich ja stets für Meinungsumfragen interessierte 47, nur einen Blick auf die jüngsten Ergebnisse solcher Volksbefragungen zu werfen. Was beispielsweise die Fachleute vom Institut für Demoskopie in Allensbach um Erich Peter Neumann und Elisabeth Noelle nach seiner fast zweimonatigen Abwesenheit herausgefunden hatten, vermittelte ein recht zwiespältiges Bild. Zwar konnte er sich über die erwähnten hohen Popularitätswerte freuen – niemals später in seiner langen Amtszeit sollte er wieder so beliebt sein wie als erschöpfter, aber erfolgreicher Kanzler im Herbst 1955. Zugleich war aber auch gefragt worden: »In ungefähr zwei Jahren sind die nächsten Bundestagswahlen. Glauben Sie, Adenauer wird sich so gut erholen, daß er noch einmal Bundeskanzler werden kann?« Und darauf hatten doch tatsächlich 43 Prozent der Befragten geantwortet: »Nein, das glaube ich nicht«, während nur noch 25 Prozent Getreue der Ansicht waren, der Kanzler würde es noch einmal schaffen. 48Ganz generell fand der Einwand, Adenauer sei – unabhängig von seinem Gesundheitszustand – für die Wahrnehmung der Regierungsaufgaben mittlerweile zu alt, seit 1951 in allen Umfragen immer mehr Zustimmung. Hatten zunächst lediglich 12 Prozent der Befragten dies als gewichtiges Kriterium angesehen, so waren es 1956 bereits 27 Prozent und 1959 dann sogar 44 Prozent – zuletzt sollte es der bedeutendste Einwand gegen Konrad Adenauer überhaupt werden. 49
Diese Stimmungslage konnte weder ihn selbst noch seine engste Umgebung oder die Spitzenpolitiker der CDU/CSU unberührt lassen. Robert Pferdmenges, Adenauer seit 1920 freundschaftlich vertraut und als Duzfreund verbunden, griff in seinem Artikel zum 80. Geburtstag des Kanzlers in der Zeit vom 5. Januar 1956 das heikle Thema auf: »Ohne Zweifel ist Adenauer ein großer Mann … Mittlerweile ist er der alte Kapitän geworden, der weiß, daß eines wichtig ist, das Wichtigste vor allem: Kurs halten. Und das Leben wäre ihm – und allen – leichter, wenn man wüßte, wer nach ihm das Steuer halten kann … Neulich sagte ich zu ihm: ›Wir werden allmählich alt. Noch zwei Jahre Bundestag, das wollen wir noch aushalten. Aber dann, bei der nächsten Wahl, dann mach ich nicht mehr mit, dann will ich meine Ruhe.‹ Doch Adenauer, halb nachdenklich, halb listig: ›Das wollen wir nochmal überlegen …‹« 50
Das war für den diskreten, vier Jahre jüngeren Pferdmenges denn doch eine vergleichsweise deutliche Aufforderung an die Rhöndorfer Adresse, eine neue Besatzung auf der Kommandobrücke anzulernen. Zugleich zeigt der Dialog zwischen den beiden, dass Adenauer sich in diesem Punkte ungern in die Karten sehen und kaum beeinflussen ließ.
Das sollte auch Bruno Heck, der Bundesgeschäftsführer der CDU, bei einem ähnlichen Versuch erfahren. Er bemühte sich, vor dem in Stuttgart stattfindenden Parteitag im April 1956 – der Parteitag des Vorjahres war wegen der Rekonvaleszenz des Kanzlers und CDU-Vorsitzenden ausgefallen – die Rangordnung innerhalb der Union zu verändern. Heck, ein eher bedächtiger Schwabe und gelernter Altphilologe, der seine Dissertation über die Anordnung der Gedichte bei Catull geschrieben hatte, ging in aller Unschuld daran, Adenauer einen Vorschlag nahezubringen, den Heinrich Krone in die interne Debatte geworfen hatte: Die Personalunion zwischen Kanzleramt und Parteivorsitz sollte aufgelöst, Adenauer auf diese Weise entlastet werden, sich mit seiner ganzen Energie künftig allein den Regierungsgeschäften zuwenden. 51Die Gelegenheit schien im Frühjahr 1956 besonders günstig, weil in Stuttgart der CDU-Vorsitzende und der Parteivorstand neu gewählt werden mussten. Doch der Alte Herr, für den es, wie Heck sich erinnerte, einfach unvorstellbar war, »die Macht des Kanzlers und Parteivorsitzenden zu teilen«, wusste geschickt die Verwirklichung dieses Plans zu durchkreuzen. 52
Aber nicht immer konnte er sich in jenen Monaten so leicht durchsetzen. Auf dem CDU-Parteitag vom 26. bis 28. April 1956 musste der machtbewusste Patriarch zum ersten Mal erleben, wie sich die Mehrheit der Versammlung gegen ihn, gegen sein ausdrückliches Votum entschied – ein für ihn sicherlich beunruhigender, unerfreulicher Vorgang, bei dem es indirekt auch um das heikle Thema seiner Nachfolge ging. Die beiden einflussreichen Landesverbände Rheinland und Westfalen hatten, angeführt vom jungen, ehrgeizigen Rainer Barzel, bereits vor dem Parteitag beantragt, die Zahl der stellvertretenden Parteivorsitzenden auf vier zu erhöhen. 53Dahinter verbarg sich die Absicht, Barzels Mentor, dem im Februar 1956 durch ein Konstruktives Misstrauensvotum von SPD und FDP in Düsseldorf als Ministerpräsidenten gestürzten Karl Arnold, den Aufstieg in der Parteihierarchie zu ermöglichen, ohne den Konfessionsproporz zu gefährden oder eine Kampfabstimmung zwischen Arnold und Kaiser, dem bisherigen katholischen Stellvertreter Adenauers, zu provozieren.
Adenauer hatte sich bereits am 26. April 1956 im Bundesvorstand gegen dieses Vorhaben gewehrt, vermutlich weil er fürchtete, mit Arnold werde ein gefährlicher Rivale in eine herausgehobene Position gelangen. Er konnte aber nicht verhindern, dass der Antrag auf dem Parteitag zur Diskussion zugelassen wurde – obwohl er eben dies durch sein vorzeitiges Verlassen der Sitzung versucht hatte. Als dieser Tagesordnungspunkt am 28. April aufgerufen werden sollte, versuchte er ein weiteres taktisches Manöver: Er ließ die Plenarsitzung unterbrechen und den Parteiausschuss zusammenrufen. Nach 90 Minuten und einer intensiven nichtöffentlichen Debatte in diesem wesentlich kleineren Gremium stimmten dort 35 Teilnehmer für und 32 gegen den Antrag, die restlichen Anwesenden der insgesamt 126 Stimmberechtigten enthielten sich, wichen einer Entscheidung aus. 54Damit wurde ins Belieben des Parteitags gestellt, abschließend über den Antrag zu befinden; Adenauers Lavieren verpuffte wirkungslos.
Im Plenum verteidigte Josef Hermann Dufhues, Mitglied des CDU-Präsidiums von Westfalen-Lippe, die vorgeschlagene Änderung:
»Ihr wesentlicher Inhalt besteht darin, daß die Zahl der stellvertretenden Mitglieder auf vier erhöht wird. Dabei, meine verehrten Parteifreunde, handelt es sich nicht um ein Spiel mit Zahlen. Die Öffentlichkeit, vor allem aber unsere Mitglieder und Wähler, erwarten mit Spannung, welches Gesicht die Gesamt-CDU erhält durch die Wahl der Personen … Es ist selbstverständlich und bedarf keiner weiteren Begründung, daß auch der Bundesparteitag von Stuttgart eine einzige Kundgebung des Vertrauens zu Herrn Bundeskanzler Dr. Adenauer war – eines Vertrauens, das auf den staatsmännischen Leistungen dieses einzigartigen Mannes beruht (Starker Beifall) … Mit äußeren Demonstrationen einheitlicher Auffassungen ist dem Herrn Bundeskanzler aber am wenigsten gedient (Beifall). Er darf erwarten, daß wir … ihm mit der Achtung und Verehrung begegnen, die in seiner Persönlichkeit, seinem Amt und seinen staatsmännischen Leistungen ihre Grundlage haben. Er muß aber auch erwarten, daß natürliche Spannungen und unterschiedliche Meinungen und Auffassungen zum Ausdruck kommen und zum Wohle der Union in gemeinsamer Verantwortung gelöst werden.« 55
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