Aber nicht allein das deutsche Inflationstrauma blieb lebendig. Alle diejenigen, die bereits in den Zwanziger- und Dreißigerjahren mit Wirtschafts- und Währungsfragen zu tun gehabt hatten, etwa Karl Bernard, der Vorsitzende des Zentralbankrates der Bank deutscher Länder, der 1929 in die Dienste des Reichswirtschaftsministeriums getreten war, oder die nunmehr durch ihre guten Verbindungen zum Bundeskanzler sehr einflussreich gewordenen Bankiers Hermann J. Abs und Robert Pferdmenges fürchteten eine Wiederholung der Wirtschaftskrise von 1930/31. War nicht schon damals einem auf kurzfristigen Krediten basierenden Aufschwung ein vollständiges Debakel gefolgt? Keinesfalls wollte man erneut Zeuge eines Booms werden, der in einen wirtschaftlichen und dann auch politischen Zusammenbruch mündete. Bei diesen Ängsten spielte darüber hinaus der Faktor der Rüstungsausgaben eine Rolle. Wirtschaftsfachleute befürchteten, die Bundesrepublik könne die mit dem Eintritt in die NATO verbundenen Ausgaben für den Militäretat nicht aufbringen, ohne die haushalts- und wirtschaftspolitische Stabilität zu gefährden, zumal die Bundesregierung trotz niedriger Steuersätze weiterhin darauf verzichtete, an die Aufnahme von Schulden auch nur zu denken. 7
Das Hauptaugenmerk aller Beteiligten galt aber den Preissteigerungen. Mit Billigung des Bundeskanzlers waren 1955 die jahrelang gedeckelten Preise für landwirtschaftliche Produkte heraufgesetzt worden. Dadurch stiegen die Lebensmittelpreise innerhalb von einem Jahr um etwa 12 Prozent. 8Außerdem suchten die Unternehmen, ohnehin knapp an flüssigem Eigenkapital, die durch Lohnerhöhungen bewirkten Kostensteigerungen durch Umlage auf die Preise auszugleichen und über kurzfristig aufgenommene Kredite ihrem Kapitalmangel abzuhelfen. Die Folgen: Die Preise stiegen weiter, Kredite wurden teurer. Wollten die Unternehmen jetzt nicht in große Finanzierungsprobleme geraten, müsse der Staat ihnen – so forderten sie jedenfalls – durch Steuererleichterungen entgegenkommen. Außerdem hätten sich die Gewerkschaften in ihren Lohnforderungen zu mäßigen. Wie sollte sich da die Bundesregierung, wie die für die Währungsstabilität mitverantwortliche Bank deutscher Länder verhalten? Sollte die Konjunktur gebremst, die Kreditaufnahme durch Anhebung der Zinssätze erschwert werden, oder war es besser, abzuwarten und eine inflationäre Entwicklung in Kauf zu nehmen, solange die Preissteigerungen die allgemeinen Einkommensverbesserungen nicht überstiegen? 9
Über diese Fragen kam es zu einem langwierigen, folgenreichen Konflikt zwischen dem Bundeskanzler und seinem Wirtschaftsminister. Wie unter einem Brennglas gebündelt, lassen sich in diesen Monaten die Stärken und Schwächen der Kanzlerdemokratie, die Herrschaftstechniken und Disziplinierungsmethoden des ersten Kanzlers der Bundesrepublik erkennen. Adenauer stand damals allen restriktiven Wirtschaftsmaßnahmen skeptisch gegenüber. Besonders mit Blick auf den Bundestagswahlkampf und die dafür benötigten Finanzmittel und Spenden besaß er gerade in dieser Zeit ein offenes Ohr für die Forderungen der Wirtschaftsverbände. 10
Vor allem Fritz Berg, von 1949 bis 1972 Vorsitzender des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), konnte fest mit seiner Unterstützung rechnen, hatte er doch ohnehin »Zugang zu Adenauer, sooft er ihn wünschte«. 11Dieser massige Sauerländer, der, in den USA aufgewachsen und mit einer Amerikanerin verheiratet, noch bei Henry Ford am Fließband gestanden hatte, verkörperte einen Unternehmervertreter wie aus dem Bilderbuch – hart, direkt, zupackend. Das imponierte Adenauer, erleichterte das Gespräch zwischen den beiden. Berg war in der Lage, die Dinge einfach und praktisch zu sehen, wie es Adenauer schätzte. 12Darin unterschied er sich vermutlich auch vorteilhaft von Ludwig Erhard, der gelegentlich zu einer etwas professoralen Attitüde, zu langen, umständlichen Ausführungen neigte, wenn er wirtschaftspolitische Probleme erklärte. Und der Kanzler machte aus seiner Sympathie für Berg kein Hehl, ja er ging im Herbst 1955 sogar so weit, nicht nur vom Wirtschafts- und vom Finanzministerium, sondern auch vom BDI eine Denkschrift über die wirtschaftspolitische Lage anzufordern. 13Ein erstaunlicher Vorgang. Dadurch räumte er der Interessenvertretung der Industrie den Rang eines gleichberechtigten Partners zweier Fachministerien ein, brüskierte auf diese Weise zwei wichtige Minister seines Kabinetts – Ludwig Erhard und Fritz Schäffer.
Der Wirtschaftsminister war im Herbst 1955 darangegangen, die Überhitzung der Konjunktur auf seine Weise zu bekämpfen, durch das, was ihn neben vielem anderen berühmt gemacht hat: durch Maßhalteappelle, Seelenmassage, durch »moral suasion«. 14Häufig wandte er sich damals an die Öffentlichkeit, hauptsächlich an die Tarifpartner, deren Lohnpolitik den Produktivitätsrahmen zu sprengen schien. Ganz typisch sind jene Sätze aus einer Rundfunkansprache vom 7. September 1955: »Die Maßlosigkeit droht zu einer ernsten Gefahr für diese so erfreuliche Konjunktur zu werden, und darum tut vor allem anderen Besinnung not. Dies gilt umso mehr, als sich Konjunkturen nicht im luftleeren Raum abspielen, als wirtschaftliche Entwicklungen nicht nach mechanischen Gesetzen ablaufen, sondern von Menschen getragen und geformt werden … Ich glaube darum auch nicht, daß es sträflicher Optimismus ist, wenn ich darauf vertraue, daß Einsicht und Erkenntnis, guter Wille, gesunder Menschenverstand und wirtschaftliche Vernunft zuletzt noch obsiegen werden …« 15
Aber es blieb nicht allein bei derartigen Apellen. Sie stellten ohnehin nur die erste Stufe seines wirtschaftspolitischen Aktionsprogramms dar. Als sich abzeichnete, dass sich das Preisklima weiter verschlechtern würde, suchte Erhard durch bestimmte Maßnahmen die dunklen Wolken zu vertreiben. Er verkündete eine neue Form der »Jedermann-Einfuhren« – dabei konnte jeder Bundesbürger bis zu einer bestimmten Höhe Waren des täglichen Bedarfs nahezu zollfrei im Ausland bestellen 16– und erkämpfte die Zustimmung des Bundestages für weitere Einfuhrliberalisierungen und Zollsenkungen. 17Natürlich entsprach dieses Vorgehen nicht den Interessen des BDI, mit dem der Wirtschaftsminister auch wegen der Kartellgesetzgebung damals schwer zu kämpfen hatte. Auf einer Sitzung im Bundeswirtschaftsministerium am 4. Oktober 1955, an der neben Erhard noch Finanzminister Schäffer, der Präsident der Bank deutscher Länder Vocke sowie der Hauptgeschäftsführer des BDI Wilhelm Beutler teilnahmen, kamen die unterschiedlichen Auffassungen deutlich zum Vorschein.
Beutler plädierte, der Denkschrift des BDI entsprechend, für höhere Abschreibungssätze, damit die Unternehmen noch stärker modernisiert und erweitert werden könnten, sowie für langsame, aber kontinuierliche Preissteigerungen. 18Erhard und Schäffer waren damit nicht einverstanden. Sie suchten die Hochkonjunktur zu dämpfen und hatten sich gegenüber Adenauer wie gegenüber dem BDI solidarisiert, indem sie entgegen der Anweisung des Kanzlers gemeinsam das gewünschte Memorandum ausgearbeitet hatten, welches sie nun erläuterten. Es sah vor, die öffentliche Bautätigkeit zu drosseln, durch umfassende Zollsenkungen das Warenangebot und damit den Wettbewerbsdruck zu erhöhen und so den inländischen Preisauftrieb zu dämpfen sowie Investitionsvorhaben steuerlich zu begünstigen, wenn diese für eine bestimmte Zeit zurückgestellt würden. 19Vocke unterstützte diese Zielsetzungen. Bereits im August 1955 hatte die Bank deutscher Länder durch die Verteuerung der Kredite und die Verknappung der Geldmenge zur Sicherung der Währungsstabilität beizutragen versucht. Man hoffte, so Hochkonjunktur und Preisauftrieb zu dämpfen. 20
Obgleich Erhard um die Affinität zwischen Kanzler und BDI wusste, bemühte er sich um die Unterstützung des Bundeskanzlers für seinen und Schäffers Stabilitätskurs. In einem Schreiben an Adenauer vom 30. Januar 1956 warnte er vor einer Politik nach der Devise »Mitglieder aller Gruppen bereichert Euch!« und beklagte sich darüber, dass gerade der BDI nichts für die Preisdisziplin tue. Besonders jene Industrien (Eisen, Blech, Metallverarbeitung), die zu Fritz Berg in sehr engem Kontakt stünden, vollzögen laufend Preiserhöhungen. 21Erhard gab sich – völlig zu Recht – überzeugt, dass hier allein Adenauers Autorität ausreichen würde, »die Geister zu bändigen und der Entwicklung vorzubeugen, die zuletzt über uns alle und auch über Sie hinweggehen würde«.
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