Weniger traf den Minister der Vorwurf, er solle nicht so viel reisen, sich mehr um die Verwaltungsarbeit kümmern. Das kannte er schon seit 1939/40 und dann natürlich aus dem bayerischen Untersuchungsausschuss. Anschließend hatten ihm ja sogar die ihm ansonsten durchaus wohlgesinnten Amerikaner den Spitznamen »Mr. Desorganisator« gegeben. 31Ein enger Mitarbeiter wie Roland Risse, der langjährige Ministerialdirektor im Bundeswirtschaftsministerium, stellte dazu rückblickend fest: »Natürlich war Ludwig Erhard kein ausgeprägter Verwaltungsfachmann, aber darauf kam es ja nicht an.« 32Erhard selbst hatte eben eine andere Vorstellung von seiner Tätigkeit: »Die Qualifikation eines Wirtschaftsministers leitet sich nicht nur aus der Fähigkeit des Organisierenkönnens ab. Es gibt Aufgaben, die nur aus der Souveränität eines ›frei schaffenden Künstlers‹ zu lösen sind.« 33Dem Journalisten Günter Gaus gegenüber bekannte er im April 1963 im »Gespräch« freimütig: »Verwaltungsmäßige Arbeit gehört nicht gerade zu meinen ausgesprochenen Leidenschaften, aber dazu hat ein Minister ja auch seine Beamten.« 34
Das unterschied ihn natürlich fundamental von Adenauer. Freischaffende Künstler hatten nach des Kanzlers Meinung an der Spitze von Bundesministerien nichts zu suchen – sie gehörten auch auf keinen Fall ins Palais Schaumburg. 35Und ob sich Erhard wirklich so auf seine Beamten verlassen konnte – und durfte –, war für den genuin misstrauischen Kanzler doch sehr die Frage. Seinen Hinweis allerdings, dass eine umfassende Überprüfung der wichtigsten Stellenbesetzungen in Erhards Ministerium notwendig sei, empfand dieser wie eine kaum verhüllte Drohung. Beabsichtigte der Bundeskanzler etwa, seine, des Wirtschaftsministers, bewährte Mannschaft in Bonn-Duisdorf auseinanderzureißen?
Was hatte Adenauer überhaupt bewogen, einen solchen Brief zu schreiben? Darüber lässt sich nur spekulieren. Seine Position war im Frühjahr 1956 angeschlagen. Seinem Machtinstinkt folgend, mochte er bereits allein die Tatsache der engen Zusammenarbeit von Erhard, Schäffer und Vocke alarmierend finden. In Erhard selbst konnte er darüber hinaus gelegentlich doch schon einen potentiellen Rivalen erblicken, zumindest einen Politiker, dem es als einzigem Kabinettsmitglied mehr und mehr gelungen war, aus seinem Schatten herauszutreten. Der Wirtschaftsminister war populär und wurde immer populärer – die Überlegungen in der Unionsspitze, man müsse ihn auf dem Stuttgarter Parteitag demonstrativ in den Parteivorstand wählen, eventuell sogar zum stellvertretenden Parteivorsitzenden machen 36, hatte Adenauer gewiss mit Unmut zur Kenntnis genommen. Dass Erhard auf dem Parteitag dann überhaupt nicht erschien, war das sein Werk? Auch auf dem Kölner CDU-Parteitag 1954 hatte nicht Ludwig Erhard, sondern der Bankier Hermann J. Abs das entscheidende Referat über »Die veränderte wirtschaftliche Stellung Deutschlands in der Welt« gehalten. Zeigte sich also ganz allgemein das Bestreben des Rhöndorfer Parteitagsregisseurs, den Minister nicht zu sehr nach vorne zu schieben, herauszustellen, ihn wieder stärker zu disziplinieren?
Mit seinem Antwortschreiben ließ sich Ludwig Erhard auffallend viel Zeit. Er benützte die Osterfeiertage, um in seinem Urlaubsort Bad Wörishofen eine Entgegnung auszuarbeiten. Es wurde eine 17 Seiten umfassende »Abhandlung«, die erst am 11. April abgesandt werden konnte. Schon aus dem Ton der ersten Abschnitte lässt sich erkennen, wie tief Erhard getroffen war. Nachdem er zu Beginn seinerseits ebenfalls darum gebeten hatte, der Bundeskanzler möge ihm seinerseits »eine freimütige Sprache nicht übelnehmen«, fuhr er fort:
»Ich habe es oft als bitter, ungerecht und kränkend empfunden, wenn Sie in Kabinettssitzungen oder bei anderer Gelegenheit die von mir vertretene Wirtschaftspolitik herabzuwürdigen oder doch hinsichtlich ihrer Konsequenz in Zweifel zu ziehen suchten. Selbst wenn ich dabei in Rechnung stelle, dass Sie nicht als Sachverständiger zu urteilen vermögen und deshalb ihre Kritik nur im Gefühlsmäßigen wurzelt, bleibt davon doch der bittere Nachgeschmack, dass Sie gerade die Arbeit jenes Ministers in Zweifel ziehen, der Ihnen wohl mehr als jeder andere in sechs Jahren treuer, menschlicher Verbundenheit den Boden für Ihre Regierungspolitik bereitet hat. Ohne die überzeugenden Erfolge unserer Wirtschaftspolitik wäre wahrscheinlich schon im Jahre 1949 die politische Entwicklung in Deutschland anders verlaufen. Daß Sie, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, gerade in politisch bewegten Zeiten, die auch ökonomisch stärkere Ausschläge zeitigen, mein wirtschaftspolitisches Handeln und Verhalten nicht immer billigen, hat sich erstmals schon bei der Korea-Krise deutlich genug ausgeprägt, als Sie es für notwendig erachteten, sich neben – oder besser über – den Wirtschaftsminister hinweg in der Person des Herrn Dr. Ernst einen wirtschaftlichen Sonderberater in Ihr Haus zu nehmen. Daß er Ihnen seinerzeit gerade das Falsche zu tun empfahl und ich mit meiner als Sturheit empfundenen Weigerung, wieder dirigistische Maßnahmen einzuleiten, recht behielt, ist in der Zwischenzeit nicht nur von den amerikanischen Behörden, sondern vor allen Dingen auch von der internationalen Wissenschaft als allein richtig anerkannt worden und hat in vielen Veröffentlichungen dieser Art seinen Niederschlag gefunden.
Für die Wirtschaftspolitik gibt es kein allgemeingültiges Rezeptbuch noch einen Fahrplan, nach dem sich der Gang der Ereignisse bestimmen ließe. Ausgehend von einem festen Ordnungssystem, das wir freie bzw. soziale Marktwirtschaft nennen, herrscht je nach den ökonomischen Gegebenheiten in Bezug auf die Auswahl und Kombination der wirtschaftspolitischen Mittel eine große Freizügigkeit des Gestaltens vor. Starr und unbeugsam stehe ich nur solchen politischen Forderungen gegenüber, die das Ordnungsgefüge im Ganzen zerstören würden, während ich mich bemühe, in der täglichen Wirtschaftspolitik … so frei und wendig als nur möglich zu sein. Gerade dieses Verhalten aber fassen Sie, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, wie ich glaube, häufig als Inkonsequenz oder als eine Art Unsicherheit auf, denn nicht anders könnte ich sonst manche Kritik deuten. Sie mögen es mir auch nicht übelnehmen, wenn ich Ihnen sage, daß jedes wirtschaftspolitische Gespräch, das wir im Gesamt-Kabinett führen, nach meinem Gefühl unbefriedigend verläuft, weil einmal zu wenig Kollegen sachverständig zu urteilen vermögen, und Sie selbst nicht die Geduld aufbringen, ein Ihrer Auffassung entgegenstehendes sachliches Urteil ruhig anzuhören …« 37
Kein Zweifel, hier wurde abgerechnet. Ein Enttäuschter zog Bilanz. Und er holte weit aus. Ein Mann hatte mit seinem Mut zu eigenen Entscheidungen noch vor der Gründung der Bundesrepublik das Fundament für alles Weitere gebaut, hatte die Basis für die erfolgreiche Politik Adenauers gelegt: er selbst, Ludwig Erhard. Und hatte er nicht recht damit? Wäre 1949 ohne seine Wirtschaftspolitik nicht doch Kurt Schumacher Kanzler geworden? Wie anders wäre die Entwicklung in der Bundesrepublik dann verlaufen! Was erhoffte sich Erhard als Gegenleistung? Vertrauen. Anerkennung. Partnerschaftliche Zusammenarbeit, wie er sie bei Oppenheimer und in den ersten zehn Jahren bei Vershofen erlebt hatte – auch sie ja um einiges älter als er selbst. Nicht umsonst hing Oppenheimers Fotografie in seinem Dienstzimmer im Ministerium.
Doch Adenauer war anders. Er reagierte auf die Verehrung, die ihm Erhard entgegenbrachte, kühl und abweisend – nachdem die erste Bundestagswahl gewonnen worden war. Er betonte die Distanz. Schon bei den ersten Koalitionsverhandlungen waren entsprechende Hoffnungen Erhards enttäuscht worden. Da die CSU mit Fritz Schäffer das wichtige Finanzressort erfolgreich für sich beansprucht hatte und Franz Blücher von der FDP hier leer ausgegangen war, wurde dieser vom Kanzler mit der verfassungsmäßig wenig bedeutsamen Vizekanzlerschaft und einem neu geschaffenen Ministerium für den Marshallplan abgefunden. Dessen Kompetenzen waren vor allem aus dem Wirtschaftsressort herausgebrochen worden – über Erhards Kopf hinweg, der am 20. September 1949 seine Ernennungsurkunde erhalten hatte, nachdem Konrad Adenauer fünf Tage zuvor gewählt und vereidigt worden war.
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