Zwei Monate später, am 24. November, beschwerte sich Erhard mit einem ersten »Persönlich! Geheim!« überschriebenen Alarmbrief erstmals bei Adenauer darüber, dass Blücher offenbar versuche, ihn auf den Posten des Bundesbankpräsidenten abzuschieben. Er beschwor Adenauer, »um die soziale Marktwirtschaft … zu einem segensreichen Ende« führen zu können, seinem Wirtschaftsminister auch die »ihm ressortmäßig zustehende Aufgabe der Führung der Wirtschaftspolitik« zuzuerkennen. Noch glaubte er an eine gedeihliche gleichberechtigte Partnerschaft und endete voll Pathos: »Ich habe das sichere Gefühl, daß wir beide, Sie, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, auf politischem und ich auf wirtschaftlichem Felde, die glückliche Zukunft Deutschlands in Händen halten!« 38
Doch sehr rasch folgte die Ernüchterung. Adenauers Antwort vom 30. November muss wie eine eiskalte Dusche gewirkt haben. Adenauer kritisierte erstmals schriftlich, was er zuvor wohl schon mündlich und was einst auch Vershofen moniert hatte: »Wie Sie wissen, habe ich nicht den Eindruck, daß Ihr Ministerium organisatorisch so gestaltet und personaliter so besetzt ist, daß eine ruhige und Ihnen und den Intentionen der Bundesregierung entsprechende Fortführung der Geschäfte gewährleistet ist.« 39Dieser kurze Brief trägt weder Anrede noch Grußformel. Das war bei Adenauer die Höchststrafe.
Unzweifelhaft war, was den Kanzler anging, der kurze Honeymoon zwischen beiden schon jetzt vorbei. Bereits wenige Monate nach dem Amtsantritt ging Adenauer für die Abgeordneten der Union überaus sichtbar auf Distanz zu Erhard. Am 31. Januar sagte er in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wörtlich: »Es ist zu überprüfen, ob es nicht an der Zeit ist, den Kurs unserer Wirtschaftspolitik zu überprüfen und an deren Stelle eine konkrete Behandlung der Wirtschaft vorzunehmen.« 40Angesichts rapide ansteigender Arbeitslosenzahlen, die auf vier Millionen zustrebten, mag diese Aussage und der Ruf nach »konkreter Behandlung«, also staatlichen Konjunkturprogrammen, die Erhard zu jenem Zeitpunkt noch vehement ablehnte, verständlich erscheinen. Dennoch weckte die Bemerkung Besorgnisse in der Fraktion. Was Adenauer dem beunruhigten Theo Blank am 2. Februar antwortete, hätte Ludwig Erhard am allermeisten mit Sorge erfüllen müssen: »Ich habe nicht über unsere Wirtschaftspolitik gesprochen, sondern über das Wirtschaftsministerium und Herrn Minister Erhard. Daß ich unsere Wirtschaftspolitik nach wie vor für richtig halte, ist klar.« 41
In dieser frühen Phase Anfang 1950 bat Adenauer auch Wilhelm Röpke um ein vertrauliches Gutachten über die Qualität der Wirtschaftspolitik seines Ministers. Dass dieser daraufhin mit einem fulminanten Lob aufwartete, nahm der Sache nicht ihren Stachel. Erhard, von Röpke über die Anfrage aus dem Palais Schaumburg informiert, musste in ihr zwangsläufig ein Indiz für die tiefsitzende Skepsis, ja sogar das Misstrauen des Kanzlers gegenüber ihm und seiner Konzeption erblicken. 42Er wusste jetzt, dass er sich als Minister auf dünnem Eis bewegte. Statt der erhofften festgefügten Partnerschaft war für ihn die interne Zusammenarbeit mit Adenauer schon früh zu einem Ritt über den Bodensee geworden.
Wahrscheinlich ging es Erhard in den ersten Jahren so wie dem gleichaltrigen Thomas Dehler, der Adenauer ebenfalls sehr bewunderte – trotz dessen Unnahbarkeit. 43Auch bei Dehler wurde dieses Gefühl der Verehrung früh und nachhaltig verletzt. Dehler musste 1953 sogar aus dem Kabinett ausscheiden und gehörte von da an bis zum Tode Adenauers zu dessen erbittertsten Kritikern. Günter Gaus gegenüber gab er 1963 zu, dass dabei das Gefühl der »enttäuschten Liebe« eine wesentliche Rolle gespielt habe 44– eine Aussage, die sich durchaus auf das Verhältnis Erhards zu Adenauer übertragen lässt. Zwar blieb der Wirtschaftsminister 1953 im Kabinett, aber auch für ihn brachte bereits die erste Legislaturperiode herbe Zurücksetzungen. Nach den Lobesworten und dem Zuckerbrot vor der ersten Bundestagswahl 1949 zeigte ihm der Kanzler hinterher mehr und mehr die Peitsche seiner Disziplinierungsmaßnahmen.
Nur einmal, am 23. September 1950, hatte ihn der Bundeskanzler als einzigen Minister zu einer Arbeitsbesprechung mit den Hohen Kommissaren John McCloy, Sir Ivonne Kirkpatrick und André François-Poncet auf den Petersberg mitgenommen, danach nie wieder. Erhards Hoffnung auf eine Fortsetzung dieser exklusiven Kooperation zerschlugen sich rasch. In den Folgejahren monopolisierte Adenauer den Zugang zu den Herren an der Spitze der Besatzungsmächte vollständig – ein wichtiges Herrschaftsmittel, um den Informationsfluss von dort oben in den Regierungsapparat hinein ganz allein lenken und kontrollieren zu können.
Ein einziges Mal, am 23. September 1950 während der Korea-Krise, durfte Erhard den Bundeskanzler allein zu den Hohen Kommissaren begleiten – und fühlte sich sichtlich unwohl dabei: (v. l. n. r.) McCloy, Erhard, Kirkpatrick, Adenauer, François-Poncet .
In jenen ersten Jahren nach Gründung der Bundesrepublik hatte Erhard zudem manchen Strauß mit den Sozialdemokraten auszufechten. Er wurde gar zum erbittert attackierten Hauptgegner der SPD. Vor allem der linke Ökonom und SPD-Bundestagsabgeordnete Erik Nölting, pikanterweise wie Erhard ein Schüler und Doktorand Oppenheimers, forderte ihn wiederholt bis zu seinem Tod im Sommer 1953 zu eindrucksvollen Rededuellen heraus, die der Wirtschaftsminister meist glänzend zu bestehen wusste. 45»Ihre Form des Liberalismus, ganz gleich, ob sie sich als Neo-Liberalismus oder sozialer Liberalismus bezeichnet, ist ein angestaubter Ladenhüter. Auf dem Rücken der kleinen Lohn- und Gehaltsempfänger und Sozialrentner vollzieht sich der Wiederaufbau. Soziale Gerechtigkeit ist nicht einfach ein natürliches Kind der Freiheit. Nie war es so notwendig, daß der Staat fördert, ausgleicht, zurechtrückt und abwehrt. Man kann heute nicht mit dem Lehrbuch von Adam Smith durch die Wirtschaft stolpern. Wir brauchen eine Umrichtung des Kurses auf soziale Verträglichkeit«, hält ihm Nölting, in einem ihrer großen, vom Rundfunk übertragenen Streitgespräche Ende 1948 entgegen. Erhard kontert: »Mir ist von der SPD schon fast alles vorgeworfen worden, abgesehen vom Lustmord. Ich bin kein Knecht der Kapitalisten und ihr folgsames Vollzugsorgan. Meine Haltung ist ganz bestimmt sozial. Mein Hauptgegner ist die Bürokratie, von der wir wissen, wie sie sich gebärdet, Menschen quält und herabwürdigt …« 46
Mit solch unerschrockenen Zurückweisungen sozialdemokratischer Attacken wurde Erhard schon früh populär. Tatsächlich zog er Wählerstimmen an wie Nektar die Bienen. Zugleich werden ihn die permanenten Anfeindungen von links mit einem gewissen Stolz erfüllt haben. Und als die Gewerkschaften noch 1951 auf Demonstrationen Transparente mit der Aufschrift »Weg mit Erhard und Adenauer« mitführten 47, wird er das als Kompliment aufgefasst haben – er wurde ja als Hauptgegner angesehen, sein Name stand noch vor dem des Kanzlers.
Adenauer profitierte gewiss von den die Öffentlichkeit stark beschäftigenden Aktivitäten seines bekanntesten und zugleich umstrittensten Ministers. Denn nicht nur die SPD, auch die Hohen Kommissare verfolgten die Wirtschaftsentwicklung mit Argusaugen. 48Der Kanzler hütete sich aber vielleicht gerade deshalb, zu sehr für seinen Wirtschaftsfachmann Partei zu ergreifen. Obwohl ihn die SPD am 18. Juli 1950 in einem Antrag im Bundestag aufgefordert hatte, Erhard zu entlassen – das Grundgesetz ließ, anders als die Weimarer Verfassung, direkte Misstrauensanträge nicht mehr zu –, musste sich der Minister zehn Tage später allein verteidigen, als im Parlament über diesen Antrag debattiert und abgestimmt werden sollte. Adenauer unterbrach deshalb seinen Urlaub am Vierwaldstätter See nicht. 49
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