Umso wichtiger war es für Erhard, dass er in seinem Ministerium die Unterstützung fand, die er brauchte, um auch ohne die Kooperation mit dem Kanzler erfolgreich arbeiten zu können. Deshalb setzte er sich allen personalpolitischen Einmischungsversuchen Adenauers gegenüber im Frühjahr 1956 energisch zur Wehr:
»Sie schreiben mir unter dem 21. März, daß Herr Staatssekretär Westrick auf Grund seiner ganzen Herkunft naturgemäß keinen Überblick über gesamtwirtschaftliche Entwicklungen haben kann. Dieses Urteil ist absolut falsch. Abgesehen davon, daß Sie selbst mir Herrn Westrick als Staatssekretär ans Herz legten und dabei sicher nicht der Meinung waren, daß er gesamtwirtschaftliche Entwicklungen nicht zu beurteilen vermöchte, kann ich nunmehr nach vieljähriger engster Zusammenarbeit für diesen Mann zeugen. Ich kann Ihnen also für diese Empfehlung nicht dankbar genug sein, denn Herr Westrick hat sich nicht nur als ein Charakter ohne Fehl und Tadel erwiesen, sondern er ist zugleich seiner Aufgabe in einem Maße gewachsen, wie ich es seither von keinem zünftigen Beamten erlebt habe …
So wie Sie selbst, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, für Ihre nächsten Mitarbeiter eintreten, stelle ich mich auch vor die meinen und werde sie in jedem Fall zu schützen wissen. Wenn Sie darum in Ihrem Brief vom 21. März schreiben, daß nach Ihrer Auffassung eine rigorose Nachprüfung der Ministerialdirektoren-Stellen im Hinblick auf die schwierigen wirtschaftlichen Probleme absolut notwendig ist, so muß ich aus dieser Diktion entnehmen, daß Sie diese Absicht offenbar nur in Bezug auf das Wirtschaftsministerium hegen. Dagegen lege ich hiermit in aller Form Verwahrung ein …« 77
Das Wirtschaftsministerium, dessen Geschichte Bernhard Löffler 2002 vorbildlich und umfassend aufgearbeitet hat, war bereits damals, 1955, vom Personalvolumen her mit rund 1400 Beamten und Angestellten, davon 472 Frauen und davon wiederum 371 im mittleren Dienst, nach dem Finanzministerium die zweitgrößte Bundesbehörde und stellte wegen seiner Aufgabenvielfalt ein einflussreiches, gewichtiges Ressort dar. 78Bis 1963 sollte die Gesamtzahl der Beschäftigten sogar noch auf 1800 ansteigen. Auch wenn der Anteil früherer Parteigenossen (Pg) bei den Unterabteilungsleitern und den Abteilungsleitern zu diesem Zeitpunkt bei etwa 60 Prozent lag – was dem Durchschnitt der Bundesministerien in der Ära Adenauer/Erhard entsprach –, verband ganz besonders in diesem Ressort die Entschlossenheit, einen erfolgreichen marktwirtschaftlichen Neubeginn nach dem Desaster des Dritten Reiches in die Wege zu leiten, alle administrativen Ebenen vom Minister bis hinunter zu den Sachbearbeitern des einfachen Dienstes. Das Ministerium galt in jenen Tagen geradezu als durchsetzungsstarkes und die öffentlichen Diskussionen im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft prägendes Haus. Bei den Stellenbesetzungen wurde weniger auf die Vergangenheit des Bewerbers in der NS-Zeit geachtet, weshalb die Zahl der ehemaligen Pg in den Fünfzigerjahren wieder leicht anstieg, als vielmehr auf den marktwirtschaftlichen »Fighting Spirit« und die Bereitschaft des Kandidaten, die Sache des Ministers zur eigenen zu machen. 79
Gerade weil Ludwig Erhard dem umfangreichen Verwaltungsapparat nicht bis in die letzten Verästelungen allzu viel seiner Zeit widmen mochte und seinen Mitarbeitern großen Spielraum zubilligte, war für ihn die Besetzung der Ministerialdirektoren-Stellen und die Staatssekretärsposition von ausschlaggebender Bedeutung. Die Mehrzahl seiner Abteilungsleiter kannte er persönlich gut, teilweise noch aus der Vorkriegszeit. Neben Alfred Müller-Armack, dem Leiter der Abteilung I (Wirtschaftspolitik), und Roland Risse, der für die Abteilung II (Mittelstandsfragen) zuständig war, pflegte Erhard auch mit Ludwig Kattenstroth, dem Leiter der Abteilung III (Bergbau, Montanunion), und mit Hermann Reinhardt, dem Leiter der Abteilung V (Außenwirtschaft), einen engen, ja freundschaftlichen Kontakt. 80
Wirtschaftswunderminister in der Weihnachtszeit 1955 – mit von ihm wenig geliebten Akten seines Ressorts unter dem Arm .
Diese Art des Zusammenwirkens und die Tatsache, dass das Ministerium in den frühen Fünfzigerjahren einem recht hohen Außendruck ausgesetzt war – nicht nur der Kanzler, auch einzelne Presseorgane, die Opposition, die betroffenen Interessengruppen kritisierten es gelegentlich scharf –, mag erklären, warum im Bundeswirtschaftsministerium eine ganz eigene Arbeitsatmosphäre herrschte. Wer hier tätig war und für die Sozialen Marktwirtschaft warb und stritt, verfügte meist über ein ganz besonderes Selbst- und Sendungsbewusstsein, das sogar dem Kanzler auffiel. Nicht ohne Grund sagte Adenauer über die Mitarbeiter im Wirtschaftsministerium zu seinem Sohn Paul: »Die sollen nicht immer so mit den Flügeln schlagen.« 81Für den unabhängigen, eigenständigen Geist des Hauses ist außerdem ganz typisch, dass die maßgeblichen Führungskräfte im Ministerium damals – und bis in die Sechzigerjahre hinein – nicht der CDU/CSU als Parteimitglieder angehörten. Sie standen ihr möglicherweise nahe, aber eben auf distanzierte Weise. Das galt nicht nur für den Minister selbst oder die Ministerialdirektoren, das galt auch für eine weitere Schlüsselfigur, für Staatssekretär Ludger Westrick.
Nicht ohne Grund verteidigte ihn Erhard mit Verve und Geschick. Sogar Ironie floss in die Zeilen ein. Tatsächlich hatte ja Adenauer selbst Westrick als Nachfolger für den Anfang 1951 verabschiedeten Eduard Schalfejew ausgesucht und Erhard im März dieses für den Wirtschaftsminister so kritischen Jahres seine Einstellung »empfohlen«. 82Ein Danaergeschenk, ein trojanisches Pferd – das sollte Westrick für Erhard sein. Durch seine Ernennung zum Staatssekretär hoffte Adenauer, sich besseren Einblick ins Wirtschaftsministerium verschaffen zu können. Betrachtete man Westricks Lebenslauf, so gab es Indizien, die für die Plausibilität dieser Hoffnung sprachen. Der 1894 in Münster geborene Westfale stand ursprünglich der katholischen Soziallehre nahe, hatte wie Karl Arnold oder Kurt Georg Kiesinger im Berlin der Zwanzigerjahre mit dem Theologen und Sozialreformer Carl Sonnenschein zusammengearbeitet und diesen verehrt. Anschließend war er ein erfolgreicher Manager geworden, nicht zuletzt von 1939 bis 1945 als Zentraltreuhänder der Vereinigte Industrie Unternehmen AG (VIAG), einem riesigen Staatskonzern, der unter anderem Aluminiumprodukte herstellte und dabei auch etwa 20 000 Zwangsarbeiter einsetzte. 83Dass er ein glühender Bewunderer der Marktwirtschaft war, durfte man kaum erwarten, gehörten doch die Anhänger der katholischen Soziallehre, an der Spitze ihr neuer Theoretiker, der Jesuitenpater Professor Oswald von Nell-Breuning, nach dem Zweiten Weltkrieg zu den schärfsten Kritikern des Wirtschaftsliberalismus. Sie nahmen an, er degradiere den Menschen zum hilflosen Objekt der mächtigen Wirtschaft, während andererseits die traditionellen Großkapitalisten jener Zeit, die Westrick ja auch kennengelernt hatte, auf Kartelle und Absprachen und nicht auf Wettbewerb setzten.
Jedenfalls würde der damalige Finanzdirektor in der Deutschen Kohlenbergbauleitung, so mochte der Kanzler spekulieren, die nötige Distanz zum Minister mitbringen und ihm selbst nicht nur detaillierte Informationen liefern, sondern das Wirtschaftsministerium auch organisatorisch auf Vordermann bringen. Daher gab sich Adenauer Ende 1950, nachdem zwei weitere mögliche Kandidaten, nämlich Friedrich Ernst und der ehemalige Staatssekretär im Reichswirtschafts- und Reichsfinanzministerium, Hans Schäffer, endgültig abgesagt hatten, in einem persönlichen Gespräch beträchtliche Mühe, Westrick für den Posten zu gewinnen. 84Dieser verwies auf seine große Familie, die sechs Kinder, seine Frau, die in Berlin als Ärztin arbeitete, sein hohes Alter, die fehlende Parteimitgliedschaft. Das alles spiele keine Rolle, wurde ihm erklärt. Westrick erbat sich drei Wochen Bedenkzeit. Aber bereits nach drei Tagen rief Globke erneut an und fragte nach. Da schlug Westrick das Angebot aus. Nun lud ihn Adenauer nochmals ins Palais Schaumburg ein und drängte abermals. Schließlich stimmte Westrick zögernd zu – für ein Jahr wollte er ins Wirtschaftsministerium gehen. Im Vertrag, den ihm Globke daraufhin rasch zur Unterschrift vorlegte, waren aber bereits zwei Jahre eingetragen worden. Dann werde man weitersehen, hieß es. 85
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