Nach der Begegnung vom 7. Mai vermuteten daher manche Journalisten, die Bundesregierung habe hier ein neues Gremium für eine intensive Zusammenarbeit mit der Bank deutscher Länder eingerichtet, und meldeten, es habe erstmals ein »Konjunkturrat« getagt. Das aber rief den Kanzler auf den Plan. Er war von der Zusammenkunft überrascht und durch diese Mitteilungen irritiert worden. Sollte vielleicht hinter seinem Rücken oder besser über seinen Kopf hinweg Wirtschaftspolitik gemacht werden? Ohnehin argwöhnisch, musste es ihn stören, wenn zwei Minister hier ohne Auftrag aus dem Palais Schaumburg eigenmächtig Pläne schmiedeten und dazu den institutionell unabhängigen Wilhelm Vocke ins Vertrauen zogen. Denn einen Konjunkturrat hatte er niemals eingesetzt.
Am Mittwoch, dem 16. Mai, erklärte der Kanzler vor der Presse: »Es gibt keinen Konjunkturrat und wird auch keinen Konjunkturrat geben.« 101Das Zusammenwirken von Vocke, Schäffer und Erhard stelle keine dauerhafte Einrichtung dar, die ganze Konjunktur würde ohnehin »nur zerredet«, lautlose Mittel der Konjunkturpolitik seien viel wichtiger. 102
Auf diese mochte sich die Bank deutscher Länder nun aber nicht mehr beschränken. Im Gegenteil. Drei Tage nach Adenauers Verdikt, am 19. Mai, wurde der Diskontsatz von neuem um einen Prozentpunkt heraufgesetzt und erreichte mit 5,5 Prozent seinen Höchststand bis 1969. Über diesen aufsehenerregenden Schritt 103war der Kanzler ebenfalls nicht im Voraus informiert worden – und so konnte sich sein Eindruck verstärken, als ob Schäffer, Erhard und Vocke sich gegen ihn zusammengetan hätten und an eine Abstimmung ihrer konjunkturpolitischen Maßnahmen mit ihm überhaupt nicht denken würden. 104Suchten sie nicht geradezu die Konfrontation? Wenn man so sehr in Machtkategorien – eben hierarchisch – dachte wie Adenauer in Bezug auf seine Minister, dann wirkten die Indizien tatsächlich alarmierend. Erhard und Schäffer hatten an der entscheidenden Sitzung des Zentralbankrates am 18. Mai 1956 in Frankfurt teilgenommen, in welcher über die Diskonterhöhung entschieden worden war. Sie wussten also genau Bescheid. Und nach der Sitzung hatte Erhard die unbedingte Notwendigkeit einer umfangreichen Zollsenkung erneut und energisch hervorgehoben. 105Damit hielt der Wirtschaftsminister an seinem Vorschlag fest, obwohl er die gegenteilige Meinung des Kanzlers zur Kenntnis genommen haben musste. Erhard kannte die Äußerungen Adenauers vor den Journalisten über die Zollsenkungspläne nicht nur, er war empört über sie. Bedingt durch die Pfingstfeiertage nahm er allerdings erst mit Verspätung, am Dienstag, dem 22. Mai, schriftlich dazu Stellung:
»Sehr verehrter Herr Bundeskanzler,
als Sie mich am Donnerstag, d. 17. Mai, um 16 Uhr 15 zu einer Besprechung baten, hatte ich wohl in großen Zügen Kenntnis von Ihrer Pressekonferenz und glaubte, es handele sich dabei lediglich um die Beseitigung eines Mißverständnisses über den Charakter jenes vermeintlichen Konjunkturrates. In der Zwischenzeit aber ist die deutsche Presse geradezu erfüllt von dieser Auseinandersetzung, und allein die Schlagzeilen beweisen deutlich genug, daß Ihre Ausführungen vor allem als Angriff gegen mich bzw. eine Absage an meine Wirtschaftspolitik gewertet wurden. Nicht nur die deutsche Öffentlichkeit, sondern vor allem ich selbst empfinde manche Ihrer Formulierungen als im höchsten Maße kränkend. Das gilt z.B. hinsichtlich meines Vorschlages bezüglich der Zollsenkung, den Sie laut Presse mit der Bemerkung: ›Wir sind doch nicht verrückt‹ kommentieren. Zu den Ihnen von Journalisten vorgetragenen Klagen über die Erhöhung von Lebensmittelpreisen bemerkten Sie: ›Fragen Sie mal den Herrn Erhard, ob das auch zur Sozialen Marktwirtschaft gehöre‹!
Die Unsicherheit in der Öffentlichkeit muß umso größer sein, als der zu gleicher Zeit veröffentlichte Bericht des Bundesverbandes der Deutschen Industrie meine Bemühungen, die Wirtschaft zum Maßhalten zu bewegen, als ›Gesundbeterei‹ glossiert und der BDI ausführt, daß ›der Vorrang der Produktion gegen die Vorstellung von der Stabilität der Währung als dem ersten ökonomischen und sozialen Wert durchgesetzt werden müsse.‹
Dieses Zerreden eines klaren konjunkturpolitischen Programms, das insbesondere durch das Zusammenwirken von Wirtschaftsministerium, Finanzministerium und Bank deutscher Länder erarbeitet wurde, hat in der Öffentlichkeit und in der Presse den völlig falschen Eindruck erweckt, als ob die Regierung der wirtschaftlichen Entwicklung tatenlos zusehe und sie treiben ließe. Und nicht zuletzt hat eben gerade Ihr Presse-Interview die irrige Auffassung noch genährt und, wie die Kommentare beweisen, das Ansehen der für die Stabilität von Wirtschaft und Währung in erster Linie verantwortlichen Minister geschmälert …
Zu der Sache selbst darf ich im Kabinett noch mündlich Stellung nehmen, aber ich kann nicht unterlassen, Ihnen neben meiner tiefen Enttäuschung meine womöglich noch größere Sorge zum Ausdruck zu bringen, denn das, was sich in der letzten Woche ereignet hat, ist meiner Überzeugung nach geeignet, die Staatsautorität zu untergraben. Jeder Bundesminister, der die Verantwortung aus seinem Amt nicht nur im Formalen, sondern auch im Materiellen und im Geistig-Sittlichen erkennt, wird sich bei dieser Entwicklung die Frage stellen müssen, ob und wie lange er sie zu tragen bereit sein kann. Das jedenfalls ist die Frage, die mich seit Tagen zutiefst bewegt. Mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung, Ihr sehr ergebener Ludwig Erhard«. 106
Man spürt in diesen Zeilen die Erbitterung des Wirtschaftsministers. Einmal mehr fühlte er sich vom Kanzler im Stich gelassen. Wo ihn dieser gegenüber Kritik aus den Reihen der Journalisten und des BDI hätte in Schutz nehmen sollen, stellte er sich selbst gegen ihn. Für Ludwig Erhard, persönlich wenig misstrauisch und immer bereit, im Sinne von Jean-Jacques Rousseau an den prinzipiell guten Charakter des Menschen zu glauben 107, war dies schwer verständlich, ja eigentlich vollkommen unbegreiflich. Er dachte eben überhaupt nicht in Machtkategorien. Ihm lag es doch völlig fern, den Kanzler zu hintergehen – wie konnte dieser bloß sein Verhalten, die Absprache mit Schäffer und Vocke, als bedrohlich ansehen? Außerdem hatte Adenauer ja selbst im Schreiben vom 21. März 1956 die mangelnde Zusammenarbeit zwischen dem Bundeswirtschaftsministerium und der Notenbank beklagt. Nun hatte man sich besser aufeinander abgestimmt, galt es doch eine für die Bundesrepublik gefährliche wirtschaftliche Entwicklung, die Überhitzung der Konjunktur, zu stoppen. Davon würde schließlich auch der Kanzler profitieren, wenn er die für die Stabilität von Wirtschaft und Währung Verantwortlichen vertrauensvoll gewähren ließ.
Aber Adenauer sah offenbar diese wohlmeinende Absicht nicht. Er mischte sich stattdessen massiv in Dinge ein, von denen er nach Erhards Auffassung wenig verstand, und stellte damit die Grundlage ihrer Zusammenarbeit verstärkt infrage – bestand diese doch aus so etwas wie einer Arbeitsteilung, einer Respektierung der Sphäre des jeweils anderen zumindest nach außen hin. So wenig Erhard dem Kanzler in der Außenpolitik dreinredete, so wenig sollte sich der Kanzler öffentlich sichtbar in die Wirtschaftspolitik einschalten. In Erhards Vorstellung mag es diesbezüglich sogar so etwas wie ein gentlemen’s agreement gegeben haben, über welches sich der Kanzler in diesen Wochen mehr und mehr hinwegzusetzen begann. 108Damit untergrub Adenauer aber nicht allein das Ansehen seines Ministers und die Staatsautorität, sondern auch die Basis für die Fortsetzung ihres gemeinsamen Wirkens, wie ihm Erhard durch die neuerliche, kaum verhüllte Rücktrittsdrohung am Ende seines Briefes zu verdeutlichen suchte.
Adenauer reagierte sofort. Noch am selben Tag verließ sein Antwortschreiben das Kanzleramt. Er schrieb ebenfalls unter dem Datum des 22. Mai 1956:
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