Wodurch wurde diese rasche Wendung bewirkt? Musste der Kanzler einsehen, dass er sich mit seinen wirtschaftspolitischen Äußerungen in »Gefilde« vorgewagt hatte, »von denen er nichts verstand«, wie es sein sehr wohlmeinender Biograph Terence Prittie formulierte? 139Lenkte er deshalb ein? Wohl kaum. Hier haben andere Überlegungen den Ausschlag gegeben.
Trägt die Entwicklung im Frühjahr 1956, was den Charakter der Konfrontation zwischen Adenauer und Erhard anbelangt, in vielfacher Hinsicht modellhafte Züge, so lässt sich neben dem Verlauf eben auch die Art der Lösung, der »Bewältigung« durchaus mit späteren Konflikten, etwa mit der Auseinandersetzung um die Bundespräsidentenwahl von 1959, vergleichen. 1956 wie drei Jahre später bahnte sich die Konfrontation in schriftlich ausgebreiteten Kontroversen an, wurde sie vom Kanzler in die Öffentlichkeit getragen, durch Erhards Rücktrittsdrohungen verschärft; hier wie dort schaltete sich die Bundestagsfraktion der CDU/CSU ein, suchte der Fraktionsvorsitzende Heinrich Krone in Zusammenarbeit mit Ludger Westrick und Hans Globke den Streit wenigstens oberflächlich beizulegen. Generell bewährte sich in diesen Fällen die enge Kooperation zwischen Krone und Westrick, die sich, nahezu gleichaltrig, persönlich sehr schätzten, sich duzten, obwohl beide, eher von distanziert-zurückhaltendem Naturell, im politischen Alltag sonst nicht zu solch vertraulichen Umgangsformen neigten. 140In Globke fanden sie übrigens jeweils einen behutsamen Verbündeten. 141Nur so konnte der widerstrebende Bundeskanzler während dieser Krise zu einer raschen Abschwächung seiner Kritik, zu einer Abmilderung zumindest nach außen hin gebracht werden.
Nach mehreren Telefonaten zwischen Kanzleramt und Wirtschaftsministerium, also zwischen Globke und Westrick, kam es am Freitag, dem 25. Mai, zu einer solchen – oberflächlichen – Einigung zwischen Adenauer und Erhard. Die Initiative zu diesem Treffen sei, so konnte man lesen, vom Kanzler ausgegangen, der »damit seine Bereitschaft, einzulenken, erkennen ließ«. 142Ganz wörtlich wird man das nicht nehmen müssen. Aber dass seine Position in dieser Sache längst unhaltbar geworden war, er etwas zurückrudern musste, wird Adenauer selbst erkannt haben. Deshalb waren Globke, Krone und Westrick bei ihren Vermittlungsversuchen erfolgreich.
Außerdem sah sich der Kanzler 1956 (wie 1959) massiver Kritik aus den Reihen der Fraktion ausgesetzt, die ihm stärker Paroli bot als das Kabinett und sich am Dienstag, dem 29. Mai, in ihrer Sitzung eindeutig auf die Seite von Erhard stellte. Während der Kanzler eine Rücktrittsdrohung seines Wirtschaftsfachmannes in aller Regel nicht sehr ernst nahm, sie ihm eher als Indiz für politische Schwäche galt – wer permanent droht, aber nicht handelt, wird unglaubwürdig –, rief sie bei den Abgeordneten der CDU/CSU sofort Beschützerinstinkte wach. Der Wahlmagnet musste ihnen nicht zuletzt mit Blick auf die Bundestagswahl 1957 unbedingt erhalten bleiben, sicherte er doch Karrieren und Mandate. Der Fraktionsvorstand, in dem der stellvertretende CDU-Parteivorsitzende, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, einer der wenigen mutigen Kanzlerkritiker, eine ausschlaggebende, meinungsbildende Rolle spielte 143, und die Fraktion gingen immer dann energisch auf Gegenkurs zu Adenauer, wenn dieser Erhard, wie geschehen, öffentlich herabzuwürdigen versuchte. »Der Bundeskanzler hat harte Worte hören müssen. Erhard fand breite Zustimmung bei seiner Feststellung, daß man die Zügel nicht schleifen lassen dürfe«, hieß es bezeichnenderweise in der Welt , deren Journalisten damals meist hervorragend informiert waren. 144
In der Kabinettsitzung vom Mittwoch, dem 30. Mai, gab sich der Kanzler denn auch sehr viel versöhnlicher als in der Vorwoche, wie Hermann Wandersieb berichtet. Adenauer, mit einem Schlag ganz friedfertig, sagte demnach: »Meine Herren, wir wollen auf die unanjenehme Jeschichte, die wir in der vorigen Sitzung besprochen haben, nicht noch einmal zurückkommen. Es war peinlich jenuch für uns alle; ich wollte Ihnen nur noch eins sagen: Wat der Herr Berg da im Gürzenich wirklich jesacht hat, dat habe ich erst jetzt jelesen. Wo ich im Gürzenich jesessen habe, konnte man dat jar nicht verstehen. Der neue Gürzenich hat ja wirklich eine janz miserable Akustik.« 145
Selbst wenn man diese Ausrede bis hin zur angeblich schlechten Akustik als durchsichtig und plump ansehen mag, so wird man in ihr doch einen Hinweis auf die Kompromissbereitschaft des Kanzlers erblicken können. Kompromissbereitschaft zeigte sich jetzt allenthalben. Das Bundeskabinett verwies während dieser Sitzung das gemeinsam von Schäffer und Erhard entworfene Konjunkturprogramm zur abschließenden Beratung an das Wirtschaftskabinett. Unter der ausgleichenden Hand von Vizekanzler Blücher sollten Erhard, Schäffer, Preusker und Lübke dort versuchen, eine Einigung zu erzielen. 146Das gelang offenbar, denn zwei Wochen später, am 13. Juni 1956, billigte das Kabinett einen umfangreichen Katalog konjunkturpolitischer Maßnahmen. Die öffentliche Hand, so beschloss man, werde sich in Zukunft mit Bauaufträgen zurückhalten; der Finanzminister akzeptierte dafür eine Steuerreduzierung, wobei vor allem die mittleren Einkommen entlastet werden sollten. Am bedeutsamsten aber war zweifellos, dass Erhards Zollsenkungsvorlage nun allgemeine Zustimmung fand, ja, dass darüber hinaus die alten Zollsenkungsbeschlüsse vom Dezember 1955, deren Geltungsdauer eigentlich am 31. März abgelaufen war, weiter verlängert wurden. 147Der Wirtschaftsminister hatte dafür Landwirtschaftsminister Lübke großzügige Ausnahmeregelungen bei vielen Nahrungsmitteln zugestanden. 148
Wie verhielt sich der Bundeskanzler? Er war offensichtlich zu einer Zurücknahme seiner öffentlich geäußerten Bedenken zu bewegen gewesen. Allerdings nahm er an der entscheidenden Kabinettsitzung persönlich nicht teil; da weilte er in den USA, konferierte mit John Foster Dulles, besuchte den erkrankten Präsidenten Eisenhower, beherrschte durch seine außenpolitischen Aktivitäten die Schlagzeilen – und wahrte sein Gesicht. Denn dabei zu sein, wie diese ärgerliche Vorlage Erhards nunmehr definitiv vom Kabinett verabschiedet wurde, wäre ihm vermutlich doch sehr gegen den Strich gegangen.
Wenig später, am 22. Juni 1956, passierte das Programm auch den Bundestag. Stimmte die CDU/CSU-Fraktion in diesem Fall für den Wirtschaftsminister, so votierte sie – ebenfalls kompromissbereit – in einer anderen Frage für den Kanzler. Nach dem Tod von Wilhelm Naegele (CDU), dem Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses – er starb am 24. Mai 1956 –, wurde in jenen intern so turbulenten Wochen auch ein neuer Leiter für diesen Ausschuss gesucht. Erhard und die ihm nahestehenden Abgeordneten wie Ernst Müller-Hermann, Gerd Bucerius und Matthias Hoogen favorisierten den Duisburger Einzelhandelskaufmann Joseph Illerhaus (CDU), während der Kanzler und die mit der Industrie sympathisierenden Abgeordneten gerne Fritz Hellwig (CDU) durchsetzen wollten. Hellwig erhielt schließlich den Zuschlag und übernahm den Vorsitz im Wirtschaftsausschuss nach der Sommerpause am 21. September. 149An diesem kleinen Detail zeigte sich deutlich das Bemühen der Unionsfraktion, vermittelnd zu wirken. Dem Wirtschaftsminister wurde damals noch keineswegs prinzipiell gegenüber dem Bundeskanzler der Rücken gestärkt, schon gar nicht, wenn sich in der Fraktion selbst Interessengruppen gegenüberstanden. Im Moment schien es aber, als habe Ludwig Erhard insgesamt einen bedeutenden persönlichen Erfolg errungen und sowohl dem Kanzler wie der Industrie mit dem einflussreichen Fritz Berg an der Spitze Paroli geboten. Erhards gestärktes Selbstbewusstsein zeigte sich denn auch, als er am 22. Juni 1956 vor dem Deutschen Bundestag das Konjunkturprogramm vorstellte und begründete. Im letzten Abschnitt seiner Rede sagte er:
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