Ich möchte jetzt einige sachliche Bemerkungen machen und folge dabei Ihrem Schreiben. Sie halten mir vor, daß ich neben oder besser über den Wirtschaftsminister hinweg in der Person des Herrn Dr. Ernst mir seinerzeit einen wirtschaftlichen Sonderberater in mein Haus genommen habe. Diese Bemerkung veranlaßt mich, die Stellung des Bundeskanzlers gegenüber den Bundesministern nach dem Grundgesetz klarzulegen. Der Bundeskanzler gibt die Richtlinien der Politik an, das gilt für die gesamte Politik, auch für die Wirtschaftspolitik. Aber der Bundeskanzler hat nach unserem Grundgesetz über die Bestimmungen der früheren Reichsverfassung hinaus eine viel verantwortlichere Stellung. Er wird vom Parlament gewählt, er kann nicht vom Bundespräsidenten entlassen werden, er allein ist dem Parlament verantwortlich für jeden einzelnen Bundesminister. Er kann diese Verantwortung nur dann übernehmen, wenn er die hauptsächlichen Fragen, die in den einzelnen Bundesministerien sachlich bearbeitet werden, auch soweit kennen lernt, daß er aus eigener Verantwortung sich ein Urteil bilden kann. Sie sprechen immer davon, daß Sie als Bundesminister es ablehnen würden, wenn Ihnen irgendjemand in Ihre Personalpolitik oder Ihre sachlichen Angelegenheiten hineinrede. Nun, ich muß Ihnen sagen, daß ich es ablehnen würde, Bundeskanzler zu sein, wenn ich ohne eigene Prüfung einfach das gutheißen und parlamentarisch zu verantworten hätte, was ein Bundesminister tut … Wenn der Bundeskanzler sich eine eigene Meinung bilden muß, muß er einen Apparat haben. Es bleibt daher gar nichts anderes übrig, als im Bundeskanzleramt auch Herren anzustellen, die sich vorzugsweise mit den wichtigsten Maßnahmen der Ministerien beschäftigen und mich darüber informieren können. Sie sind der erste Bundesminister, der sich dagegen auflehnt, wie der Fall Ernst zeigt …« 95
Eine für das Selbstverständnis des Kanzlers bezeichnende Passage, die außerdem die Arbeitsweise des Kanzleramtes erhellt. Im Verhältnis des Bundeskanzlers zu seinen Ministern spielten »amtliche, verfassungsmäßige und persönliche Beziehungen« eine Rolle, schreibt Adenauer. Und er behält die Reihenfolge im Auge. Der persönliche Aspekt rangierte am Schluss – wohingegen er nach Erhards Meinung ganz vorne stehen müsste. Setzte man aber die Schwerpunkte wie Adenauer, konnte es für einen Minister keine Zurückstufung bedeuten, wenn der Bundeskanzler sich durch Personen seiner Wahl gesondert informieren ließ. Mit dem Hinweis auf die Richtlinienkompetenz des Kanzlers – der Erhard gegenüber auffallend oft erfolgte, vermutlich, weil es Adenauer mangels eigener Sachkenntnis schwerfiel, sich in der Wirtschaftspolitik mit Fachargumenten durchzusetzen 96– suchte der Kanzler dies seinem Wirtschaftsminister verständlich zu machen.
Tatsächlich wurden alle Ministerien ähnlich behandelt, stellte das Kanzleramt ein verkleinertes Abbild des Kabinetts dar. Die Angelegenheiten der einzelnen Ressorts wurden in den sogenannten »Spiegelreferaten« des Kanzleramtes von besonders kenntnisreichen, sachkundigen Beamten bearbeitet und überprüft. Staatssekretär Globke verstand es dabei meisterhaft, durch die Entsendung von Fachleuten aus dem Amt in die Ministerien und umgekehrt durch die »Einladung« von Ministerialbeamten ins Bundeskanzleramt eine besonders enge Verzahnung zu erreichen, den Informationsgrad zu erhöhen und letztlich natürlich auch den Einfluss des Kanzleramtes und des Kanzlers auf die Ministerialbürokratien sicherzustellen. Auf diesem Wege hatte sich das Kanzleramt trotz seiner vergleichsweise geringen Personalausstattung sehr rasch zur eigentlichen Schaltzentrale, zum Machtzentrum der Bundesrepublik entwickeln können. 97Aber nicht allein gegen diese Arbeitsweise, gegen die institutionalisierten Berater hatte Erhard ja Einwände geltend gemacht, sondern auch gegen die zahlreichen Souffleure des Kanzlers, die bisweilen im Halbdunkel des Lobbyismus agierten. Adenauer wies diese Beschwerde ebenfalls in drastischen Worten zurück:
»Ich muß doch entschieden dagegen Verwahrung einlegen, daß Sie erklären, daß ›Funktionäre – oder es mögen auch Präsidenten sein – zwar organisatorisch, aber bestimmt nicht moralisch berufen seien, für die wirtschaftenden Menschen als Einzelpersönlichkeiten zu sprechen‹. Sie meinen augenscheinlich damit unter den Funktionären Herrn Abgeordneten Hellwig, ferner die Herren Beyer und Stein und endlich unter den Präsidenten Herrn Berg und Herrn Pferdmenges als Präsident der privaten Banken. Es ist mir unverständlich, woher Sie sich das Recht zulegen zu behaupten, daß diese Herren nicht moralisch berufen seien, als Einzelpersönlichkeiten für die wirtschaftenden Menschen zu ›sprechen‹. Sind Sie sich überhaupt darüber klar, welch schwere Beleidigung Sie damit aussprechen? Wenn Sie dann noch von mir verlangen, daß meine Besprechungen mit solchen Herren ›unter Ihrer sachverständigen Kontrolle‹ stehen sollten, so ist das doch eine Beeinträchtigung meiner freien Entschließungen, die mir nicht paßt. Ich lasse mir keine Vorschriften machen darüber, mit wem ich sprechen kann, weil mir niemand die Verantwortung abnehmen kann, auch nicht der beste Bundesminister. Ich glaube auch, daß Sie sich irren, wenn Sie der Auffassung sind, daß der Einfluß und das Ansehen des Wirtschaftsministers noch so groß sei, wie vor einigen Jahren. Das ist eben nicht der Fall …« 98
Im Klartext hieß das, dass der Kanzler gar nicht daran dachte, in Zukunft auf Ratschläge zu verzichten, die ihm etwa Paul Beyer, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Deutschen Industrie- und Handelstages, oder Fritz Hellwig, Mitbegründer und langjähriger Leiter des gemeinsam von BDI und BDA getragenen Deutschen Industrie-Instituts, aber auch Gustav Stein, seit 1949 stellvertretender Hauptgeschäftsführer des BDI, Fritz Berg und Robert Pferdmenges geben konnten. Und der Ton, in welchem Erhard dies mitgeteilt wurde, war keineswegs versöhnlich. Adenauer, gekränkt, griff nun, selbst nicht ohne Bosheit, zum Mittel der Kränkung: Das Wirtschaftsministerium habe an Ansehen eingebüßt, stellte er wohl nicht zufällig im unmittelbaren Anschluss an diese Passage fest. Weitere Nadelstiche folgten, etwa als der Kanzler seinen Vorwurf wiederholte, Erhard müsse häufiger im Ministerium präsent sein: »Wenn in den letzten Monaten vor der Wahl ein Minister sich der Öffentlichkeit in stärkerem Maße widmet, so halte ich das für richtig. Aber ich bin nach wie vor der Auffassung, daß Sie nicht so oft abwesend sein dürfen. Daß Organisationen Ihre Anwesenheit wünschen, ist ganz klar, weil Sie ein hervorragender Redner sind. Aber schließlich ist das Ministerium die Hauptsache. Ihre Meinung, daß das Auswärtige Amt über alle Ihre Reisen sehr glücklich gewesen sei, ist – ich muß Ihnen das doch sagen – irrig …« 99
Abschließend bot der Kanzler – wie so oft am Ende langer, schriftlich ausgetragener Kontroversen – seinem Minister an, in Bonn nach ihrer beider Rückkehr in einem persönlich-sachlichen Gespräch eine endgültige Klärung zu versuchen. Falls diese Aussprache tatsächlich stattfand, so war ihr allenfalls ein kurzfristiger Erfolg beschieden. Im Mai 1956 verschärften sich die Spannungen nämlich so sehr, dass sie sich nicht mehr länger verbergen ließen. Der Streit wurde jetzt teilweise in der Öffentlichkeit ausgetragen.
Der Funke, der die Zündschnur in Brand setzte, welche wiederum zur Explosion führte, entstand wohl am 7. Mai. An diesem Tag trafen sich die Minister Erhard und Schäffer mit Wilhelm Vocke, dem Präsidenten im Direktorium der Bank deutscher Länder (ab 1957: Deutsche Bundesbank) in Bonn. Zwischen Schäffer und Erhard war die Zusammenarbeit immer besser geworden. Die beiden hatten sich »zusammengerauft«, duzten sich sogar in guten Tagen; und mit Vocke verband den Wirtschaftsminister schon seit der Korea-Krise ein besonderes Vertrauensverhältnis. Rasch kam daher eine Einigung zustande: Es gelte, die erhitzte Konjunktur weiter einzudämmen, die Politik des knappen Geldes beizubehalten. Erhard und Schäffer gaben der Presse darüber hinaus bekannt, sie beabsichtigten, gemeinsam noch vor Ablauf des Monats eine Kabinettsvorlage einzubringen und konkrete Maßnahmen vorzuschlagen, wie man den Bundeshaushalt beschränken, den Bauboom bremsen könne, den der Bund durch seine zahlreichen Aufträge mit ausgelöst hatte. Der Bundeswirtschaftsminister unterstrich außerdem die Notwendigkeit einer linearen Zollsenkung von 30 Prozent für alle gewerblichen und landwirtschaftlichen Güter, um den Wettbewerbsdruck auf dem Binnenmarkt zu erhöhen. Schließlich wurde in einem Kommuniqué verkündet, dass man sich zu dritt in regelmäßigen Abständen weiter zu treffen beabsichtige. 100
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