»Sehr geehrter Herr Erhard!
Ihr Brief vom 22. Mai ist mir zu weitaus größten Teilen völlig unverständlich. Ich stelle folgendes fest:
1.) Ich habe überhaupt keine Pressekonferenz gehabt. Ich mußte nach der Sitzung des Bundesparteiausschusses verspätet einer Einladung zu einem Presse-Tee der Allgemeinen Pressekonferenz folgen. Als ich dort war, stürzten sich zu meinem Schrecken die Journalisten auf mich mit Fragen nach dem Konjunktur-Rat. Daß solche Fragen überhaupt an mich gestellt werden konnten, ist wohl aus dem Verhalten Ihres Ministeriums in der ganzen Angelegenheit zu erklären.
2.) Wer Ihnen gesagt hat, daß meine Ausführungen als ein Angriff gegen Sie bzw. eine Absage an Ihre Wirtschaftspolitik gewertet worden sind, sagt die Unwahrheit.
3.) Sagen Sie mir, welche meiner Formulierungen Sie als in höchstem Maße kränkend empfinden. In der Frage der Zollsenkung habe ich mich gegen einen Artikel, der, glaube ich, am gleichen Tage in der ›Frankfurter Allgemeinen‹ erschienen war, gewendet, in dem die Rede davon war, daß alle Zölle, auch die der Landwirtschaft, um 30 Prozent gesenkt werden sollen. Ich habe auf die Frage danach erwidert: ›Wir sind doch nicht so verrückt, daß wir wegen der bedrängten Lage der Landwirtschaft 900 Millionen bewilligen und dann die landwirtschaftlichen Zölle allgemein senken.‹
4.) Die Journalisten haben mir Klagen vorgetragen über plötzliche Preissteigerungen auf dem Wochenmarkt und in den Gastwirtschaften und haben ein Einschreiten dagegen verlangt. Darauf habe ich erwidert: ›Fragen Sie Herrn Minister Erhard, ob wir nach den Regeln der sozialen Marktwirtschaft gegen solche Preissteigerungen einschreiten können.‹ Ich enthalte mich eines Kommentars zu dem, was der Bundesverband der Deutschen Industrie gesagt hat. Ich bin dafür nicht verantwortlich.
Ich finde es meinerseits völlig unerträglich, daß der Wirtschaftsminister, der Finanzminister und ein Vertreter der Bank Deutscher Länder ein ›konjunkturpolitisches Programm‹ ausarbeiten, ohne daß das Kabinett, ohne daß der Bundeskanzler überhaupt davon in Kenntnis gesetzt wird. Ich bin keinesfalls gesonnen, mir ein derartiges Handeln über meinen Kopf hinweg gefallen zu lassen. Ich habe daher für Donnerstag, den 24. Mai 10 Uhr eine Kabinettssitzung anberaumt, in der ich von Ihnen und von Herrn Schäffer Auskunft verlangen werde über all das, was hinter meinem Rücken geschehen ist. In meiner ganzen Regierungszeit habe ich mich noch kein Mal so von Ministern meines Kabinetts übergangen gefühlt – um keinen schärferen Ausdruck zu gebrauchen – als bei dieser Aktion. Ich möchte Ihnen das in aller Deutlichkeit sagen. Mit vorzüglicher Hochachtung, Adenauer«. 109
Ein aufschlussreicher Brief. In der Diktion holprig, im Aufbau widersprüchlich, vermutlich vom Kanzler selbst in Eile und ohne vorheriges Konzept seiner Beamten formuliert. Zunächst gab er sich ganz unschuldig, harmlos, fand die Vorwürfe Erhards »völlig unverständlich«. Da war ein müder, abgespannter Kanzler am 16. Mai von Journalisten zu seinem »Schrecken« nach dem Konjunkturrat befragt worden und hatte, weil er vom Wirtschaftsministerium zuvor nicht unterrichtet worden war, kritisch und ablehnend geantwortet. Dies sei aber keinesfalls als Angriff auf die wirtschaftspolitischen Zielsetzungen seines Ministers zu verstehen gewesen – wer Erhard das einrede, sage die Unwahrheit.
Offenbar glaubte der Kanzler tatsächlich, dass die engsten Vertrauten des Wirtschaftsministers, Westrick, Müller-Armack oder Karl Hohmann, der in jenen Monaten den im April 1956 verunfallten Persönlichen Referenten Dankmar Seibt vertrat 110, diesen gegen ihn aufbrachten. Vielleicht konnte er sich nur auf diese Weise den zähen Widerstand seines Wirtschaftsministers erklären, mit dem er sonst immer rascher fertiggeworden war. Merkte er nicht, dass plötzlich langjährige Brüskierungen, Enttäuschungen, Zurücksetzungen hervorbrachen, dass Erhard sich an seinem Regierungsstil rieb? Entscheidend waren da nicht die Ratgeber, ausschlaggebend für Erhards Reaktion war allein das Verhalten des Kanzlers. Und sein Brief goss noch Öl ins Feuer. Adenauer wiederholte genau jene Sätze vom Abend des 16. Mai, die Erhard besonders gekränkt hatten, wiederholte etwa, dass er Zollsenkungen im landwirtschaftlichen Bereich für »verrückt« hielt. 111War das fehlendes Einfühlungsvermögen, oder sollte Erhard bewusst provoziert werden?
Wie zornig der Bundeskanzler über die Schritte des wirtschaftspolitischen Triumvirats war, zeigte sich unverhüllt im zweiten Teil seines Schreibens. Noch niemals in seiner ganzen Regierungszeit habe er sich derart übergangen gefühlt! Oboedentia facit imperantem – Gehorsam macht den Herrscher. Darauf achtete Adenauer streng. 112Und er war nicht gesonnen, dieses »Fehlverhalten«, dieses Paktieren zweier seiner Minister hinter seinem Rücken hinzunehmen. Adenauer besaß ein ungebrochenes, unkompliziertes Verhältnis zur Macht. Anders als manche Politiker seiner Zeit hatte er den Machtmissbrauch der Nationalsozialisten zu keinem Zeitpunkt mitgetragen und jene Jahre überstanden, ohne sich opportunistisch anzupassen. Sein Blick für die Notwendigkeit von Herrschaftsverhältnissen war nicht von Schuld getrübt – das sah er nüchtern, sachlich. »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«, definierte einst Max Weber. 113Auch wenn Adenauer intellektuelle, akademische Formulierungen fremd gewesen sein mögen, diese Aussage hätte ihm wohl auf Anhieb eingeleuchtet. Den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen – war das nicht bei Regierungsgeschäften fortwährend nötig? Wofür, wenn nicht hierfür waren die dem Kanzler durch die Verfassung zugesprochenen Möglichkeiten, allen voran die Richtlinienkompetenz, eigentlich geschaffen? Man musste dieses Instrumentarium nur zu handhaben wissen, dann konnte man damit jeden Minister, der sich dagegen auflehnte, zur Ordnung rufen und seinen Gehorsam erzwingen.
So war es auch im Mai 1956. Wie ein erzürnter Schulmeister das Nachsitzen seiner Klasse anordnete – nicht umsonst wurde Adenauer in Karikaturen der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre gerne mit Rohrstock und in Lehrerpose gezeichnet 114–, kündigte der Kanzler in seinem Brief an Ludwig Erhard eine Sondersitzung des Kabinetts an, wo die beiden renitenten Minister vor versammelter Mannschaft Rechenschaft ablegen sollten. Bis zu dieser Sitzung hatte die Entwicklung sich allerdings noch weiter zugespitzt. Der Bundeskanzler war daran keineswegs unschuldig.
Der Zufall wollte es, dass am Mittwoch, dem 23. Mai, der Bundesverband der Deutschen Industrie seine 7. ordentliche Mitgliederversammlung in Köln abhielt. 115Am Abend dieses Tages hatte der BDI rund 1000 Gäste zu einem Herrenessen in den großen Gürzenich-Saal gebeten. Unter den Gästen fehlten der Bundeswirtschafts- und der Finanzminister, überhaupt alle Ressortchefs der Bonner Kabinettsrunde. Sie waren diesmal seltsamerweise nicht eingeladen worden. 116Wer allerdings die Entwicklung der letzten Wochen verfolgt hatte und die Äußerungen von Fritz Berg während einer Pressekonferenz am Vortag kannte, konnte dies kaum verwunderlich finden. Dort hatte der BDI-Präsident Erhard und Schäffer massiv kritisiert: Die wirtschafts- und konjunkturpolitischen Maßnahmen sowie die Steuerpolitik der Bundesregierung ließen, so sagte er, »eine klare gesamtwirtschaftliche Linie vermissen«, eine wirksame Koordination gebe es anscheinend nicht, die Fachminister gingen getrennte Wege. 117Offenbar setzte der BDI nun, einen Tag später, seinen Konfrontationskurs gegenüber der Bundesregierung fort. Was machte dann aber der Bundeskanzler auf diesem Empfang? Adenauer mischte sich ganz ungezwungen unter die Gäste, tafelte mit, unterhielt sich angeregt. Das konnte man schon eher verblüffend finden. Aber es kam noch schlimmer.
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