Auch Korporal Ria Ritz trat heraus. Sie sah Kauz sofort und kam auf ihn zu. Aller Augen richteten sich auf ihn.
»Tut mir leid, Herr Walpen, Sie können Ihre Ferienwohnung noch nicht beziehen«, sagte sie.
»Das ist mir klar.«
Wieso sind Sie dann zurückgekommen?, fragte ihr Blick.
»Ist die Leiche freigegeben?«, fragte Kauz. Er wusste genau, dass ihm eine Antwort nicht zustand, aber er konnte es ja versuchen. Er hoffte, dass sie Nein sagen würde.
»Wie Sie sehen, transportiert der Bestatter sie soeben ab. Mehr darf ich nicht sagen, Herr Walpen. Sie sind ja kein Angehöriger.«
»Ich möchte bloß wissen, wann ich den Speicher beziehen kann«, gab er vor. In Wirklichkeit eilte es ihm damit gar nicht.
Vielleicht um ihn loszuwerden, antwortete sie dennoch: »Der Bezirksarzt hat den Toten untersucht. Und die Staatsanwältin in Visp hat entschieden, dass es keine weiteren Ermittlungen braucht. Das heißt, wenn nichts Unerwartetes zum Vorschein kommt, wird der Speicher morgen oder übermorgen freigegeben. Oder sagen wir: spätestens am Montag.«
Kauz verkniff sich einen Einwand. Habe ich mich wirklich getäuscht, fragte er sich. War es doch Selbstmord?
Er ging auf sein Zimmer in der Alpenrose.
Lust auf ein Nachtessen verspürte er keine.
Wenn nichts Unerwartetes zum Vorschein kommt, hatte die Polizistin gesagt. Nun ja, vermutlich wurde Wendels Leiche nach der Legalinspektion vor Ort noch rechtsmedizinisch untersucht. Dann würde man Verdacht schöpfen oder Gewissheit haben und den AgT Imfang als Tötungsdelikt behandeln. Vielleicht mahlten die Mühlen der Justiz hier einfach etwas langsamer.
Er legte sich ins Bett und lag noch lange wach. Nicht nur der Tod seines Freundes ließ ihm keine Ruhe. Auch seine schmähliche Entlassung aus dem Polizeidienst begann ihn plötzlich wieder zu wurmen. Es waren mittlerweile noch mehr Anrufe und Nachrichten von seinen Kollegen eingetroffen. Sie wollten wissen, wo er war und wie es ihm gehe. Er kam sich plötzlich schäbig vor, weil er einfach abgehauen war, ohne sich noch einmal mit ihnen zu treffen. Er rief einige seiner Polizisten an, bei andern meldete er sich per SMS. Er erklärte sich so gut es ging, und alle zeigten Verständnis für seinen Abgang. Sie wünschten ihm erholsame Ferien und nahmen ihm das Versprechen ab, sich wieder zu melden, sobald er zurück sei.
Vom außergewöhnlichen Todesfall im Goms sagte er nichts.
Nachts erschien ihm Frau von Hooch im Traum: Sie saß majestätisch auf ihrem Thron. Eine lange Reihe von Polizisten stand im Festsaal bereit, um von ihr den Ritterschlag zu empfangen, Senn als Erster. Frau von Hooch berührte mit dem Degen die Schulter des Kripochefs. Der frisch Geadelte stand auf, verneigte sich und ging von dannen. Als Kauz an die Reihe kam, war es kein Degen mehr, den Frau von Hooch in der Hand hielt, sondern ein Zweihänder: Das ist kein Ritterschlag!, konnte er gerade noch denken, als sie ausholte. Da schreckte er in seinem Bett hoch und griff sich an den Hals.
In der Früh ertönte von der Pfarrkirche her Glockengeläut: Die größte, tiefste Glocke wurde als erste geschlagen, dann stimmten allmählich die anderen und schließlich die kleinste ein. Es dauerte fast eine halbe Stunde, drei mal sieben Minuten. Mit einem Mal erinnerte sich Kauz, was ihn seine Großmutter gelehrt hatte: Das war das Totengeläut für einen Mann. Jetzt wusste es das ganze Dorf, dass ein Einwohner gestorben war. Die Neugierigen würden den Sigristen anrufen, um zu erfahren, wer es war. Wer es nicht schon gestern erfahren hatte, wusste spätestens an diesem Morgen, dass Wendelin Imfang tot war.
Eigentlich hatte er den Eltern Imfang einen Kondolenzbesuch machen wollen, aber als er sich dem Hof auf dem Milifäld näherte, standen schon andere vor der Haustür. Da wollte er mit seinem Besuch lieber noch zuwarten.
Er entschied sich, mehr schweren als leichten Herzens, für eine erste kleinere Wanderung. Sein Vorhaben war, vorerst im Obergoms zu wandern und erst allmählich in die Ferne zu schweifen. Er ging zur Alpenrose zurück, packte seine Kamera und etwas Proviant ein und stieg auf sein Motorrad. Die Fahrt ging über Geschinen und Ulrichen, an der Abzweigung der Nufenenpassstrasse vorbei, nach Obergesteln und Oberwald. In gut zehn Minuten war er dort. Ganz zuhinterst, im Dorfteil Unterwasser, stellte er die Maschine ab und nahm den Wanderweg Richtung Furkapass unter die Füße.
Schutzhund bewacht die Herde , hieß es weiter oben auf einer Tafel. Gut so, dachte Kauz. Aber auf eine Diskussion über den Wolf würde er sich mit einem Gommer auf keinen Fall einlassen, nicht einmal mit einem Schutzhundehalter.
Er hatte nicht vor, bis ganz auf den Pass hinaufzumarschieren. Ihm genügte es, einen Aussichtspunkt zu finden. Nach einer guten Stunde kam er auf einer Alp an. Er setzte sich vor die Hütte. Keine Menschenseele war zu sehen. Ein Murmeltier stand aufrecht auf einem Felsbrocken, pfiff und verschwand. Weiter oben blökten Schwarznasenschafe.
Das war genau der Punkt, den er gesucht hatte. Die Aussicht war unbeschreiblich schön. Das Goms lag ihm in seiner ganzen Pracht zu Füßen. Die Sonne stand noch in seinem Rücken.
Kauz nahm seinen Fotoapparat hervor, fixierte ihn auf dem Ministativ, stellte Blende und Belichtung ein und prüfte das Bild auf dem Display, bevor er abdrückte. Farbbilder schoss er, wenn ihm danach war, mit seinem Handy. Aber mit seiner Spiegelreflexkamera wollte er sich in der digitalen Schwarzweißfotografie üben.
Sein Vater war Hobbyfotograf gewesen und hatte zu Hause im Keller eine kleine Dunkelkammer eingerichtet. Als Zehnjähriger hatte Kauz dort die geheimnisvolle Verwandlung vom simplen Papierstreifen in schwarz-weiße Bilder miterlebt. Vor Jahren hatte er einen Kurs in Schwarzweißfotografie besucht. Nur hatte er dieses Steckenpferd, wie so manches andere auch, später vernachlässigt. Jetzt hatte er endlich Zeit, seine bescheidenen Vorkenntnisse aufzufrischen.
Er war gespannt darauf, wie sich diese bunte Landschaft als Schwarzweißbild präsentieren würde: Wie ein Flickenteppich in verschiedenen Grüntönen breitete sich der Talboden aus – hellere und dunklere Gevierte, gemähte und noch ungemähte Wiesenparzellen –, der Länge nach durchzogen von einem blauen Band, dem Rotten. Daran reihten sich in regelmäßigen Abständen die sechs, sieben Dörfer des Ober- und des Mittelgoms, die man von hier aus sehen konnte. Die bewaldeten Bergflanken fassten diese Vignette von den Seiten her ein, geradeaus bildete das Weisshorn den grandiosen Abschluss. Darüber wölbte sich ein wunderbar blauer Himmel. Und mitten durch diese unbewegte Landschaft schlängelte sich, von ferne wie eine Spielzeugeisenbahn anzusehen, der aus fünf Waggons bestehende rote Zug der Matterhorn-Gotthard-Bahn.
Kauz fühlte sich wie in einer andern Welt.
Das Glück war von kurzer Dauer. Schon war der Gedanke an Wendel wieder da und ließ ihn nicht mehr los. Was war geschehen? Hatte ihn seine Intuition getäuscht? Hatte Wendel sich doch umgebracht? Er fühlte sich ohnmächtig. Wenn er gedurft hätte, so hätte er sich in den Fall verbissen, hätte alles getan, um Gewissheit zu erlangen. Aber er durfte nicht. Er musste sich ganz heraushalten.
Kauz stand auf und machte sich auf den Rückweg. Er nahm den Pfad über den Kummerberg. An einer Wegbiegung sah er ein Tier mit spitzen Ohren und langem Schwanz, vielleicht ein sehr dunkler Fuchs, über den Trampelpfad huschen. Zu seiner Verwunderung blieb das Tier in einiger Distanz stehen, drehte sich nach ihm um, duckte sich in einen Graben und schaute ihn aus schwarzen Augen an.
Kauz blieb stehen und kauerte sich auf den Boden.
Das konnte kein Fuchs, es musste ein Hund sein. Das Tier, nur wenig größer als ein Fuchs, hatte aber längere Beine, kam aus dem Graben gekrochen und bewegte sich in geduckter Haltung, immer fluchtbereit, aber verhalten mit dem Schwanz wedelnd, auf ihn zu.
Читать дальше