Kenzelmann ließ die drei allein und Kauz zog sich in eine Ecke des Aufbahrungsraums zurück, um den Eltern am Sarg den Vortritt zu lassen. Wie er es erwartet hatte, näherten sie sich dem Leichnam ohne Scheu. Sich bekreuzigend und halblaut betend, stellten sie sich neben den Sarg. Lange standen sie so, dann streichelte die Mutter stumm die Wangen ihres Sohns und küsste ihn auf die Stirn, der Vater legte seine Hände auf die des Toten.
Im Vorraum wartete Kenzelmann. Auf einem Tischchen lagen, in ein graues Tuch eingeschlagen, das er jetzt auseinanderfaltete, die persönlichen Sachen des Toten: Militärschuhe, Stallhose und -jacke, Mütze. Auf der Hose lagen in einer transparenten Plastiktüte Wendels Armbanduhr, sein Portemonnaie, ein zerknülltes Taschentuch, ein Ledergürtel, ein Schlüsselbund und ein einzelner, größerer Schlüssel.
»Das ist der Speicherschlüssel«, stellte Frau Imfang fest. »Nehmen Sie den«, sagte sie, griff in die Tüte, nahm den Schlüssel heraus und streckte ihn Kauz hin. »Den zweiten haben wir bei uns zu Hause.«
Kauz nahm den Schlussel und steckte ihn ein.
Die Militärschuhe standen auf einem weißen Plastiksack, wie er in Hotels für gebrauchte Wäsche bereitliegt, die man gewaschen haben will.
»Was ist da drin?«, fragte Frau Imfang und nahm den Plastiksack in die Hand.
»Das sind nur …«, sagte Kenzelmann und wollte sie diskret davon abbringen, den Inhalt hier und jetzt zu sichten.
Frau Imfang ließ sich nicht abhalten, sie nahm den Sack und leerte den Inhalt auf die Stalljacke: gebrauchte Unterwäsche, Socken, Hemd. Wendels in ein Plastikbehältnis verpacktes Gebiss. Und, wiederum in einem transparenten, jedoch verschweißten Plastiksack: ein zerschnittener Kälberstrick, das eine wie das andere Ende zu einer Schlaufe verknotet.
Kauz erschrak.
Das gibts doch nicht!, dachte er. Den Strick, an dem er gehangen hatte, zu den persönlichen Sachen zu legen! Was haben sich die Leute bloß dabei gedacht?
»Entschuldigen Sie«, stammelte Kenzelmann und versuchte, den Strick unauffällig beiseitezulegen. »Das hätte nicht passieren dürfen. Das war ein Fehler.«
Doch der alte Imfang hatte die Plastiktüte schon in der Hand und sah sich den Strick an.
»Ja«, bestätigte er. »Allerdings, da ist ein Fehler passiert. Das ist nämlich keiner von unseren Stricken. Solche haben wir gar nicht. Wohl eine Verwechslung.« Er deutete mit seinem krummen Zeigefinger auf das eine Ende des Stricks, in welchem, quasi als Markenzeichen, ein roter Zwirn eingeflochten war. »Das ist keiner von unseren«, wiederholte er und legte die versiegelte Tüte mit dem zerschnittenen Strick auf das Tischchen zurück.
Kauz war sprachlos. Meint er wirklich, der Strick sei verwechselt worden?, dachte er.
Frau Imfang schluchzte.
Noch ehe der verdatterte Kenzelmann reagieren konnte, packte Kauz anstelle der Eltern Wendels Sachen zusammen und versorgte alles in einer großen Tragtasche aus festem schwarzem Papier, die neben dem Tischchen bereitstand.
»Ich trage das«, sagte Kauz zu den Alten. »Bis Sie mit der Besprechung fertig sind, warte ich hier auf Sie.« Er schaute Kenzelmann fragend an.
Dieser nickte, deutete auf einen der Sessel im Vorraum. Kauz setzte sich. Kenzelmann führte Wendels Eltern zum Besprechungszimmer, ließ sie eintreten und schloss die Tür.
Kauz wartete eine Weile, dann stand er auf, nahm den versiegelten Kälberstrick, steckte ihn in seine Jackentasche und setzte sich wieder. Als er sicher sein konnte, dass die Besprechung über die Einzelheiten der Bestattung im Gang war, stand er wieder auf und schlich sich noch einmal in die Aufbahrungshalle.
Auf der Rückfahrt mit dem Zug brach plötzlich ein Gewitter los. Es donnerte und blitzte, bald darauf begann es wie aus Kübeln zu schütten. Damit hatte Kauz nicht gerechnet. Im Gegenteil, beim Einsteigen in Münster hatte er sich noch gewundert, dass Frau Imfang einen Regenschirm dabeihatte.
Unauffällig studierte er das zerfurchte Gesicht der alten Frau, die wie versteinert dasaß und den Rest der Fahrt über kein Wort mehr sagte.
Wieder in Münster, verabschiedete er sich von den beiden alten Leuten und ging zur Alpenrose. Morgen würde er sein Zimmer räumen und in Wendels Speicher ziehen.
Kauz hatte seine alte BMW vor dem bescheidenen Hotel abgestellt. Als er dort ankam, traute er seinen Augen nicht: Der Hund mit dem weißen Fleck auf der Brust lag neben seinem Motorrad, den Kopf auf den Vorderpfoten. Er stand sofort auf, als er Kauz erblickte, winselte freudig, drehte sich wie toll um sich selbst, ließ sich von Kauz tätscheln und leckte seine Hände. Diesmal brachte es Kauz nicht übers Herz, den Hund wieder wegzuschicken. Er schmuggelte ihn ins Hotelzimmer, holte sich im Restaurant eine Schüssel und setzte ihm Wasser vor. Dann stellte er ihn unter die Dusche. Das nasse Fell stank fürchterlich, sogar als Kauz mit der Hundewäsche schließlich fertig war. Er bestellte sich unten im Restaurant ein einfaches Nachtessen mit viel Fleisch und packte die Hälfte des Menüs in eine Papierserviette. Der Hund, der im Zimmer gewartet hatte, ließ sich nicht zweimal bitten. Kauz beschloss, den Hund über Nacht zu beherbergen und am nächsten Tag nach seinem Besitzer zu suchen.
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