Kaspar Wolfensberger - Liebeskrank

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Der Chefarzt einer renommierten psychiatrischen Klinik wird ermordet. Vor seinem gewaltsamen Tod gibt er eine Reihe von Interviews über die sogenannte Liebeskrankheit. Doch was sind das für seltsame Gespräche: Auf Mitschnitten ist allein die Stimme des Psychiaters zu hören, der Reporter stellt keine einzige Frage. Das hindert den redseligen Arzt freilich nicht daran, Antworten zu geben. Was bewegt ihn dazu, sich diesem bizarren Interview zu stellen? Und was spielt sich hinter den Kulissen der Klinik ab? Dieser Krimi der etwas anderen Art verrät es.

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Kaspar Wolfensberger · Liebeskrank

Kaspar Wolfensberger

Liebeskrank

Ein Interview mit List

Kriminalstück für Solostimme

Oesch Verlag

Alle Rechte vorbehalten

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© 2007 by Oesch Verlag AG, Zürich

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ISBN(epub) 978-3-0350-4012-8

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Prolog

»Mitten ins Herz: Doktor der Liebeskranken ist tot! War es Mord?«

(Schlagzeile in FLASH am Sonntag vom 13. Juni 2004)

»Samstagvormittag, kurz vor 11 Uhr: In der Klinik Seeblick macht Arztsekretärin Natalie M. (36) einen grausigen Fund. Chefarzt Horst-Günther List (64), bekannt aus der TV-Sendung Liebeskrank, lehnt tot im Bürodrehstuhl hinter seinem Schreibtisch, auf dem weissen Arztkittel prangt ein roter Fleck. Eine Pistole liegt neben ihm. Frau M. schluchzend zu unserem Reporter: ›Selbstmord war das nicht! Niemals! Das war Mord!‹«

( METRO vom 14. Juni 2004, Frontseite)

»Wie bereits in der Sonntagspresse zu lesen war, wurde am vergangenen Samstag der Co-Chefarzt der Klinik Seeblick, Dr. med. Horst-Günther List, tot in seinem Sprechzimmer aufgefunden. List galt als Experte für die Behandlung der sogenannten ›Liebeskrankheit‹, eines in Fachkreisen noch umstrittenen Syndroms. Dem Vernehmen nach wird eine natürliche Todesursache ausgeschlossen. Die Bezirksanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen. Was immer die kriminalpolizeiliche Untersuchung ergibt – Unfall, Suizid oder Tötungsdelikt –, diese neue Tragödie trifft die Klinik schwer. Nach einem tödlichen Therapieunfall vor einem Jahr und dem unerwarteten Hinschied der damaligen Chefärztin, Frau Prof. Miriam Katz, kam das Haus nicht mehr aus den Schlagzeilen heraus. Es wird aufgrund dieses jüngsten Todesfalls unausweichlich sein, die Irrungen und Wirrungen im Seeblick zu durchleuchten.«

( NEUE TAGESZEITUNG vom 14. Juni 2004, Lokales)

1

Eilige Schritte in einem Korridor halten abrupt an.

Oh! Haben Sie mich erschreckt! Sie waren aber auch kaum zu sehen in dieser Nische. Wollten Sie etwa zu mir?

Ach, das tut mir leid. Ich habe leider keine Zeit. Meine Sekretärin wird Ihnen aber gern einen Termin … Nanu, was ist denn das? Darf ich sehen? Kleiner geht’s nicht! Eines dieser winzigen Wunder der Elektronik? Dann kommen Sie wohl für ein Interview?

(Seufzt:) Das dritte in dieser Woche. Moment, ich schau nach. Wo habe ich bloss meine Agenda?

Hand klopft auf die Kleidung.

Da.

Seiten werden umgeblättert.

Augenblick, ich hab’s gleich.

(Murmelnd:) Tz, tz, tz, sieht nicht gut aus. Hmm, warten Sie. Vielleicht, vielleicht. (Wieder lauter:) Doch, es sollte gehen. Ein kurzes Gespräch liegt drin. Treten Sie ein.

Türe wird geöffnet.

Bitte nach Ihnen.

Frau Mantel hätte Sie wirklich nicht da draussen warten lassen dürfen. Seltsam, dass sie Ihnen keinen Platz im Vorzimmer angeboten hat. Aber angemeldet sind Sie doch, oder?

Ach, egal.

Was haben Sie denn da? Ist das Ihr Presseausweis?

Nicht nötig, stecken Sie den ruhig wieder ein. Ich kann mir die Namen ohnehin nicht merken. Kommen Sie. Bitte …

Türe fällt ins Schloss.

… nehmen Sie Platz.

Papiere werden auf Tischplatte geklatscht.

Sessel quietscht.

Läuft Ihr Gerätchen schon?

Gut. Schiessen Sie los!

Pause.

Keine Sorge, ich beisse nicht.

Räuspern.

Ihr erstes Interview? Wie ein Neuling sehen Sie mir zwar nicht aus.

Hüsteln.

Liege ich richtig: Sie sind nicht neu in diesem Geschäft, oder? Ich glaube, ich habe Ihr Gesicht schon mal gesehen. An einer Pressekonferenz oder so.

(Freundlich:) Trotzdem, lassen Sie sich Zeit.

Pause.

Kein Problem, wirklich nicht.

Pause.

Lampenfieber? (Wohlwollend:) Prüfungsangst, so ähnlich?

Ach, das muss Ihnen doch nicht peinlich sein. Ich kenne das. Bin schliesslich vom Fach. Vielleicht fange ich am besten selber an.

Räuspern.

Sie werden wissen wollen, worum es bei der Liebeskrankheit geht. Stimmt doch, oder?

(Heiter:) Sehen Sie, schon kommen wir ins Gespräch.

Also – (ernst:) gegen einen Vorwurf muss ich mich gleich im Voraus wehren: dass ich die Liebe pathologisiere.

Nichts liegt mir ferner. Liebe ist niemals pathologisch. Liebe ist eine zutiefst menschliche Erfahrung. Vielleicht die grösste. Die tiefste. Nein, die Liebe steht jenseits jeder Krankheitslehre, ausserhalb jeder medizinischen oder psychiatrischen Begrifflichkeit. Mein Syndrom bezieht sich denn auch gar nicht auf die Liebe selbst. Sondern auf das Leiden, das sie verursacht. Es beschreibt die Folgen, schmerzliche, qualvolle oder unerträgliche Auswirkungen der Liebe. Das Leid, das entsteht, wenn Liebe nicht erwidert, wenn sie enttäuscht oder verraten wird. Darum geht es. Verstehen Sie?

Ach so, Liebeskummer!, denken Sie jetzt, nicht wahr?

Nun, das wäre eine Verharmlosung. Offen gestanden kann ich das Wort nicht mehr hören: Liebeskummer! Wir sprechen hier von einer gravierenden gesundheitlichen Störung. Liebes krankheit muss es heissen. Nicht zu verwechseln mit dem Liebeswahn, der pathologischen Eifersucht und andern Krankheitsbildern, die längst in den Psychiatriebüchern figurieren. Der Begriff Liebeskrankheit dürfte den meisten Ärzten geläufig sein, seit ich das Syndrom beschrieben habe.

Räuspern .

Beschrieben, nicht entdeckt. Entdeckt stand bloss in der Zeitung: »Doktor List, Entdecker einer neuen Krankheit«, aber mir klingt das zu grossspurig. In einer stand sogar »Erfinder«. Ich bitte Sie! Niemand erfindet eine Krankheit.

Nein, erfunden habe ich nichts. Entdeckt eigentlich auch nicht. Ich bin ja kein Seefahrer. Sagen wir lieber: erkannt. Ich habe etwas, was unnötiges Leid verursacht, als Krankheit erkannt. Das ist auch schon alles. Immerhin wurde das Leiden dadurch der Behandlung zugänglich gemacht. So wie vor gar nicht langer Zeit die soziale Phobie – Sie wissen doch, wovon ich rede? – als Krankheit erkannt und therapierbar gemacht wurde. Zuvor hatte man jenes Leiden als Schüchternheit abgetan, man apostrophierte die Kranken als ängstlich, als befangen, als gehemmt. Wenn das keine Verharmlosung war! Aber das ist vorbei: Soziale Phobie nennen wir diesen Zustand heute. Und zwar mit Recht. Seit das Leiden als Krankheit erkannt wurde, erhalten Tausende, nein, Hunderttausende, was sage ich: Millionen von Kranken endlich effiziente Hilfe. Mit kognitiver Verhaltenstherapie und modernen Psychopharmaka. Sehr effizient, das können Sie mir glauben. Vor allem die Medikamente.

Kurze Pause.

Zurück zur Liebeskrankheit. Nachdem ich meine Patientendaten systematisch ausgewertet hatte, war es einfach nicht mehr zu übersehen. Zuerst wollte ich es ja selbst nicht wahrhaben. Aber ich konnte es drehen und wenden, wie ich wollte, es blieb dabei: Der Zustand, den man gemeinhin als Liebeskummer bezeichnet, ist medizinisch gesehen – und zwar nach allen Kriterien der WHO! – eine Krankheit. Eindeutig. Ohne Wenn und Aber. Heute ist es mir schleierhaft, wie man dieses Faktum hatte übersehen können. Das, nicht mein bescheidener Beitrag ist das Erstaunliche an der ganzen Geschichte: dass die Krankheit nicht schon längst als solche erkannt wurde. (In angeregtem Gesprächston:) Da gibt es übrigens einen interessanten Aspekt: In der Weltliteratur wurde das Syndrom nämlich schon tausendfach, und bis ins kleinste klinische Detail, beschrieben: Romeo und Julia, Werther, Die Kameliendame, Madame Bovary, Tod in Venedig, und, und, und. Der Volksmund kannte die Krankheit schon immer: Man ist verrückt nach jemandem, krank vor Eifersucht, stirbt beinahe vor Sehnsucht, Sie kennen diese Redensarten.

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