»Komm her«, lockte Kauz.
Der Hund kam leise winselnd näher. Er sah ziemlich ausgemergelt und verwahrlost aus. Augenblicklich regte sich der Tierfreund in Kauz. Er kramte in seinem Rucksack, der Hund legte sich in einigen Metern Abstand auf den Boden und beobachtete ihn aufmerksam. Kauz brach etwas von seinem Sandwich ab und warf es dem Hund zu. Der schnappte sich den Bissen und schlang ihn hinunter.
Kauz rührte sich nicht.
Allmählich kam der Hund näher. Kauz richtete sich auf, sofort nahm der Hund Reißaus. Dann blieb er stehen, drehte sich um und kam, den Bauch fast am Boden, erneut näher. Schließlich legte er sich, aufgeregt wedelnd, vor Kauz auf den Bauch. Kauz streckte die Hand aus. Der Hund flüchtete erneut, und das Spiel begann von vorn.
Doch nach kurzer Zeit war es so weit: Der Hund leckte Kauz die ausgestreckte Hand und ließ sich den Kopf tätscheln. Er warf sich vor ihm auf den Boden, wälzte sich auf den Rücken, rappelte sich auf und versuchte, an Kauz hochzuspringen. Übermütig drehte er ein paar Runden, tollte wie wild durch den Wald hinunter und wieder herauf und blieb herausfordernd bellend vor Kauz stehen.
»Du bist mir einer«, lachte Kauz. »Wo gehörst du denn hin? Auf die Alp? Dann jetzt aber marsch, zurück«, sagte er nach einer Weile streng und schickte den Hund mit einer Armbewegung weg. Der Hund trollte sich, aber als Kauz weiterging und sich später umdrehte, sah er, dass der Hund ihm in respektvollem Abstand folgte. Wenn er sich entdeckt fühlte, legte er sich sofort platt auf den Boden. Kaum ging Kauz weiter, schlich ihm der Hund hinterher. Er gehörte wohl doch nicht auf die Alp. Den Eindruck eines Schutzhundes machte er jedenfalls nicht.
Auf einmal stand Kauz vor den Überresten eines Berggasthauses. Unterhalb der Ruine setzte er sich auf einen Stein und schaute ins Tal.
»Wunderbare Aussicht, nicht wahr?«, sagte eine Stimme.
Kauz drehte sich um und sah nach oben: Da stand eine sportliche Frau, vermutlich etwas jünger als er, mit markantem Gesicht und Kurzhaarschnitt, im dunklen Haar ein paar graue Strähnen. Ihr Outfit sah mehr nach Läufer- als nach Wanderkleidung aus. Sie stand auf den Brettern, die einst die Sonnenterrasse des Berggasthauses gebildet hatten, hielt ein Fernglas in der Hand und sah lachend auf ihn herab.
»Habe ich Sie erschreckt?«
»Ein bisschen. Ich war nicht darauf gefasst, hier jemanden anzutreffen«, sagte Kauz. »Ist das Ihr Hund?«
»Welcher Hund?«, fragte die Frau zurück.
Kauz blickte um sich. Aber da war kein Hund mehr. Er erzählte kurz von seiner Begegnung.
»Nein, ich habe keinen Hund. Er wird auf die Alp gehören«, mutmaßte die Frau und blickte durch das Fernglas.
»Was sieht man?«, fragte Kauz.
»Viel«, antwortete die Frau. »Wenn man weiß, wohin man schauen und wonach man suchen muss: Schwarznasenschafe, Murmeltiere, Steinböcke.«
Ob sie oft hierherkomme, wollte Kauz wissen.
Wann immer es gehe, war die Antwort, wenn möglich jede Woche einmal, steige sie zu diesem Aussichtspunkt hoch. Im Sommer wie im Winter. Im Winter mit Schneeschuhen. Das müsste eigentlich jeder Gommer tun. Und die Auswärtigen erst recht.
»Dann wohnen Sie im Goms?«
»Ja, in Münster. Und Sie?«
»Ich mache in Münster Ferien.«
»Das freut mich«, sagte die Frau. »Hotel oder Ferienwohnung? Entschuldigen Sie, wenn ich so neugierig frage. Aber mir liegt es am Herzen, dass sich die Leute bei uns wohl fühlen.«
»Arbeiten Sie für den Verkehrsverein?«
»Sozusagen«, lachte die Frau.
»Ich wohne in der Alpenrose. Aber übermorgen kann ich hoffentlich in den Speicher ziehen, den ich gemietet habe.«
»Ach, Gott«, sagte die Frau. »Etwa in Wendelin Imfangs Speicher?!«
Kauz brauchte nicht zu antworten, die Frau wusste, dass sie richtig kombiniert hatte. Kleine Welt, dachte Kauz.
»Sein Tod macht uns alle traurig«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie haben trotzdem schöne Ferien. Ich steige direkt ab, aber wenn ich Ihnen einen anderen Rückweg empfehlen darf: Gehen Sie über Lärch. Dort hinunter, zur Kapelle, dann bei den baufälligen Ställen links abbiegen«, sagte sie und zeigte mit dem Arm die Richtung.
Kauz bedankte sich und nahm den Weg über Lärch.
Als er sich den halb verfallenen Ställen und Stadeln näherte, war der Hund plötzlich wieder da. Offenbar hatte er einen weiten Bogen um die Gasthausruine gemacht, vielleicht weil er merkte, dass Kauz dort nicht allein war. Kauz blieb wiederholt stehen und schickte den Hund mit strenger Stimme weg. Doch er ließ sich nicht mehr abschütteln. Zwar machte er jedes Mal zum Schein kehrt, doch kaum ging Kauz weiter, kam er wieder und folgte ihm im Abstand von zehn, zwanzig Metern, bis ins Tal.
Bei seinem Motorrad angekommen, wurde es Kauz weh ums Herz: Der Hund schnüffelte mit Inbrunst am Motorrad und an den Satteltaschen, setzte sich, als Kauz sich den Helm überstülpte, vor ihm auf den Boden, wedelte mit dem Schwanz und guckte ihn, mit schräggelegtem Kopf, die Ohren gespitzt, erwartungsvoll an. Auf seiner Brust leuchtete ein kleiner weißer Fleck.
Was soll ich bloß tun?, dachte Kauz.
Er konnte den Hund unmöglich mitnehmen. Bestimmt gehörte er auf einen Hof im Oberen Goms, oder es gab einen Feriengast, der ihn vermisste und schon längst auf ihn wartete.
Er tätschelte den Hundekopf und gab ihm einen Klaps auf den Hintern.
»Geh nach Hause!«, sagte er halbherzig und schickte ihn mit einer Handbewegung weg. Dann kickte er seine alte BMW an, schwang sich in den Sattel und fuhr los. Es brach ihm fast das Herz, als er, über die Schulter zurückblickend, den Hund hinter dem Motorrad herrennen sah. Er rannte sich fast die Seele aus dem Leib. Kauz gab Gas.
Wieder in der Alpenrose, musste er sich den Rest des Tages ausruhen. Die Wanderung dauerte laut Wegweiser zweieinhalb Stunden. Er hatte gut und gern dreieinhalb gebraucht. Den Gedanken an den Hund versuchte er zu verdrängen. Doch es gelang nicht: Was, wenn er vielleicht doch herrenlos war? Ausgesetzt oder einem Tierquäler entlaufen? Nun hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er das Tier gefüttert und dann seinem Schicksal überlassen hatte.
Am frühen Abend machte er immerhin noch einen Spaziergang durch das Dorf. Er kehrte im Chäsgadä ein, vor welchem Das ganze Jahr Raclette angepriesen wurde. Raclette im Sommer?, fragte er sich. Wieso auch nicht? Er setzte sich an einen der drei kleinen Tische, holte sich eine Walliser Zeitung und bestellte eine Doppelportion, dazu einen Dreier Johannisberg. Er blätterte die Zeitung durch. In den Lokalnachrichten wurde über den Verkehrsunfall in Münster am Vortag berichtet. Es war von einem achtundvierzigjährigen Unfallopfer die Rede, das in Lebensgefahr schwebte. Die Polizei suchte Zeugen des Unfallhergangs und erhoffte sich Hinweise auf das Unfallfahrzeug. Eine Nachricht über den Tod von Wendelin Imfang stand erwartungsgemäß nicht in der Zeitung.
Die alte Frau saß mit verweinten Augen auf der Eckbank hinter dem Esstisch, ein Taschentuch mit umhäkelten Rändern in der Hand. Ihr Mann saß hilflos neben ihr. Die beiden waren bestimmt über achtzig. Kauz war unsicher gewesen, ob er am Sonntag seinen Besuch machen dürfe. Aber Frau Imfang sagte, alle Verwandten und Bekannten seien schon da gewesen. Sie hatte ihn ohne Umstände hereingebeten.
»Sie sind also der Herr Walpen aus Zürich«, stellte sie fest. »Das ist flott, dass Sie kommen. Äns flott. Wendel hat von Ihnen erzählt, wissen Sie. Er war stolz darauf, dass Sie Jahr für Jahr seinen Speicher mieten. Er hat sich darauf gefreut, dass Sie kommen.«
»Ich habe mich auch auf ihn gefreut.«
»Eben. Das wusste er. Und deshalb verstehen wir nicht …«
Sie schluchzte stumm. Ihr Mann wischte sich mit dem rauen Handballen die Augen.
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