»Wie meinst du das?«
Johanna trat einen Schritt vor, sah ihrer Mutter tief in die Augen und zischte: »Hast du Georg auch erzählt, wer euch die neue Kredenz gekauft hat? Und das neue Radio? Oder wer euch jeden Monat Geld zusteckt, damit ihr nicht irgendeinen billigen Fraß schlucken müsst, sondern etwas Anständiges auf den Tisch kommt? Von den teuren Prothesen für Vaters Bein ganz zu schweigen.«
Die Mutter öffnete den Mund, aber es kam kein Ton heraus.
»Der Georg weiß nicht, dass ich das von unserem Haushaltsgeld abzweige. Und ich hab auch nicht vor, es ihm zu erzählen. Oder willst du es ihm etwa sagen, wo ihr doch so gute Freunde seid, du und dein Schwiegersohn?«
Johanna sah, wie sehr sie ihre Mutter damit verletzte, der jetzt die Tränen in die Augen schossen, aber sie war so entsetzlich wütend und konnte nicht mehr an sich halten.
»Immer nur putzen und waschen und bügeln für andere Leute, Mutter. Und trotzdem reicht es hinten und vorne nicht für euch zu dritt! Immer nur Arbeit und nichts wird besser. Ich bin ein Star, Mutter! Na, jedenfalls war ich einer und ich werd wieder einer sein und dann verdiene ich besser als mein Mann, der euch nie und nimmer euer Leben zu dritt finanzieren würde. Also überleg dir gut, auf wessen Seite du stehst. Und nun nimm mir das Kind ab, ich muss Text lernen gehen.«
Damit war Johanna auch schon halb auf dem Weg nach draußen, als ihre Mutter rief: »Ja, aber Kind, ich muss doch gleich fort!«
»Tante Mitzi ist doch da!«, sagte Johanna nur und blickte zu ihrer Tante, die die kleine Lore mittlerweile auf den Schoß genommen hatte und hin und her wiegte. Dann griff Mitzi nach den Patschhänden des Mädchens und klatschte mit ihnen sanft den Takt einer Melodie, die nur sie hören konnte. Lore lächelte selig.
»Wie du meinst«, sagte ihre Mutter. Darauf winkte Johanna ihrer Tochter kurz zu und trat schließlich in den Flur des Hauses hinaus, in dem sie aufgewachsen war und der wie eh und je nach Kalk und feuchten Erdäpfeln und einem Leben roch, von dem sie dachte, dass sie es schon lange hinter sich gelassen hatte.
Jetzt, wo die Katze aus dem Sack war, hatten Johanna und Georg nicht mehr das Gefühl, noch etwas verstecken zu müssen. Zwei Tage, nachdem sie beschlossen hatten zu heiraten, zog sie bei ihm ein. Nicht offiziell, das hätte der Vermieter nie zugelassen, aber heimlich und mit einem Koffer voller unbrauchbarer Dinge, auf die Johanna aber nicht verzichten wollte.
»Was ist das?«, fragte Georg und zog mit spitzen Fingern eine speckige Mappe aus dem Koffer heraus.
»Oh«, rief Johanna freudig aus, »das ist mein Stück!«
»Ein Theaterstück?«, fragte Georg neugierig.
»Natürlich, was denkst du denn?« Johanna öffnete die Mappe. Daraus quoll ein ganzer Wust an vergilbten Blättern hervor, auf denen eine unsaubere Kinderhandschrift zu lesen war. »Das hab ich verfasst, als ich ungefähr acht Jahre alt war.«
»Mein Gott, hattest du eine schlamperte Handschrift! Was steht da?«
Er deutete auf den Titel.
»Da steht: Der Prinz vom Semmering «, las Johanna laut vor.
»Das klingt furchtbar«, befand er.
»Das ist es wahrscheinlich auch«, stimmte ihm Johanna zu. »Aber es war mein erster großer Erfolg.«
Georg wendete die Mappe und sah auf die Rückseite. Dort hatte Johanna das selbst gestaltete Plakat zur Aufführung ihres Prinzen vom Semmering geklebt. Diesem konnte er Ort und Zeit der Uraufführung entnehmen: 12. März 1938, in der Küche der Quellenstraße Nummer 112.
»Da hast du dir aber den denkbar schlechtesten Zeitpunkt für deine Premiere ausgesucht«, sagte er.
Johanna schaute über seine Schulter. »Wie man es nimmt. Immerhin ist mein Vater deswegen nicht zum Heldenplatz gepilgert, um seinen neuen Führer willkommen zu heißen.«
»Wirklich?«, fragte Georg ungläubig. »Dein Vater hat die Theatervorstellung seiner Tochter Hitler vorgezogen?«
»Jawoll!«, sagte Johanna mit deutschem Akzent, schlug die Fersen zusammen und hob die rechte Hand. Und mit unverkennbarer Stimme, die an einen gewissen Herrn aus Braunau am Inn erinnerte, fügte sie hinzu: »Ich kann sehrrr überzeugend sein.«
»Bist du wahnsinnig?«, beeilte sich Georg zu sagen. »Man macht keine Witze über die Nazis!«
»Ich schon«, sagte Johanna, schnappte sich ihr Manuskript, ließ sich damit auf das Sofa fallen und begann zu lesen. Und schon nahm sie um sich herum nichts mehr wahr. Also kam Georg die Aufgabe zu, Teller und Gläser, die sie auf dem Flohmarkt zusammengekauft hatten, in den Küchenschrank einzuräumen. Er wickelte sie aus alten Zeitungen und polierte sie anschließend. Dabei fiel sein Blick wie zufällig auf eine zusammengeknüllte Ausgabe der Vorkriegszeitung Die Stunde, in der einer der Teller eingepackt gewesen war und aus der ihm nun das zerknitterte Antlitz Kurt Schuschniggs entgegenglotzte. Der hätte meinetwegen auch zu Hause bleiben können, dachte Georg.
»Es ist großartig, dass du nun wieder bei uns bist. Niemand freut sich mehr darüber als ich! Dennoch denke ich, ein Kind gehört zur Mutter!«, sagte Meinrad und der leise Vorwurf in seiner Stimme klang deutlicher und lauter in Johannas Ohren nach als die eigentlichen Worte des großen Mimen.
Sie nickte nur stumm, aber in ihrem Inneren ballte sich die Wut zu einer Faust, die mit voller Wucht gegen ihren Magen stieß. Vor Übelkeit wurde ich beinahe schwindelig. Erst ihre Mutter, nun auch noch der Meinrad.
»Ich bin doch immer noch für sie da«, stieß sie leise hervor.
»Natürlich bist du das. Aber Johanna, du weißt doch, wie das mit den Proben ist, ganz zu schweigen von den Vorstellungen. Willst du dir und dem Kind das wirklich zumuten? Du bist eine wunderbare Schauspielerin und natürlich verstehe ich deinen Drang, wieder auf der Bühne zu stehen, aber denk doch mal an all das, was geschehen ist und wie viel du durchmachen musstest, bis du endlich dieses kleine Wunder in den Armen halten durftest!«
Das war’s. Meinrad brauchte gar nichts weiter zu sagen, Johanna wusste bereits, dass von seiner Seite nicht mit Unterstützung zu rechnen war und dass er jetzt auf ihre Vergangenheit anspielte, das gab ihr den Rest.
Stumm nickte sie und tat so, als ob sie ihm zustimmen würde, aber in ihrem Inneren bereute sie es schon, sich ihm anvertraut zu haben. Als hätte das alles noch nicht gereicht, fügte der Meinrad hinzu: »Und was sagt dein Mann zu alledem?«
»Ich brauche meinen Mann nicht um Erlaubnis zu fragen, wenn ich auf die Bühne gehe«, presste sie zwischen ihren Zähnen hervor.
Da sagte der Meinrad nichts mehr, aber Johanna konnte sehen, wie unangenehm ihm die ganze Situation war, weil er natürlich auf Georgs Seite stand und sich nicht traute, dies auch laut auszusprechen, nicht weil er sich vor Johannas Reaktion fürchtete, sondern weil es ihm prinzipiell unangenehm war, allzu Intimes mit anderen Menschen zu teilen. Also suchte er sich einen billigen Vorwand und ließ Johanna mit Küsschen rechts, Küsschen links einfach beim Eingang zu den Herrengarderoben stehen und verschwand hinter einer der Türen, während sie ohne Plan und ohne Gesprächspartner auf dem Flur zurückblieb. Es war beinahe so, als hätte sie ihren Einsatz verpasst und müsste nun dabei zusehen, wie das Stück ohne sie weiterlief.
Sie machten keine große Sache daraus. Sie kaufte ein Kleid, das ihren Bauch weitgehend kaschierte, er bestellte einen Brautstrauß und sie sagten Johannas Eltern Bescheid, wann und wo sie sich zur Trauung einzufinden hatten, dazu kam noch Georgs alter Onkel, der als Trauzeuge vorgesehen war und ein wenig als Vaterersatz herhalten musste, weil Georgs Eltern schon lange tot waren. Als Trauzeugin für Johanna fungierte eine alte Schulfreundin, die bis eine Woche vor der Trauungszeremonie noch nicht einmal wusste, wer Georg war oder dass Johanna ein Kind erwartete. Und zu guter Letzt lud Johanna entgegen dem Rat ihres zukünftigen Mannes und ihrer Eltern Tante Mitzi ein, die jedoch aufgrund einer Erkältung daheim bleiben musste, wo eine Nachbarin nach ihr schaute.
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