Neben Claire, die noch haltlos ins Licht hinein träumt, wie ein Kind an der Tür des Christbaumzimmers, der eben und plötzlich geöffneten, beginnt Paul Pauer bewusst zu denken. Sein Blick geht empor zu dem riesigen Haus gegenüber, das einen hohen Dom, von Quecksilberlichtern magisch umrandet, in den siebenten Himmel reckt: Pantheon, Gralsburg! Und dort wieder sind, am Horizont, die Türme und Zacken und Zinnen des Paramount-Kinos in das nächtliche Weltall gezeichnet; und da und dort, wohin er blickt, auf dem Ozean dieser Lichter, schwimmen die Lichterinseln, die wieder noch heller sind und bedeuten: Theater, Kino, Zirkus, Varieté, Revue und Kino. Immer wieder ein Kino. Ein sprühendes Feuerwerk aus Reklametexten meisselt aus Licht und graviert in Licht Namen, die Spiele mit Licht bedeuten; die Flammenschwerter unsichtbarer Erzengel schreiben mit ihren Spitzen auf einmal ein mystisches Menetekel in die magische Feuersbrunst dieser Nacht:
JANNINGS IN „VARIETE“ ― GRETA GARBO ALS DIE „VERSUCHERIN“.
Matelian, der das alles schon kennt und gewohnt ist, möchte weitergehen, ins Restaurant an der Ecke der Vierundvierzigsten Strasse; doch er kriegt seine Freunde noch nicht vom Fleck. Wie betrunken blickt Claire vor sich, ohne einen Gedanken im wirbelnden Kopf; Paul aber sieht schon mit schätzenden und bedenkenden Augen. Von den phantasmagorischen Lichtreklamen der oberen Luft blickt er abwärts in die nahen Regionen. Hier fassbar und zugänglich, sind die grossen Portale von tausend Vergnügungsstätten, die hellen Fenster der zahllosen Speisehäuser. Torhüter, Riesen in Uniform, mit goldenen Schnüren und klappernden Ordensreihen am Rock, stehen stramm vor eintretenden Gästen oder schieben Drehtüren auf; vor dem Kino, in dem „Beau Geste“ gegeben wird, zum fünfundvierzigsten Male, halten zwei Männer die Wache, die als französische Fremdenlegionäre verkleidet sind, mit Gewehr, Bajonett und knallroten Hosen; sie sagen fortwährend laut vor sich hin: „Alle Sitze ausverkauft!“ Durch die Glasscheiben der Kakaostube „Merry Old Holland“ sieht man Kellnerinnen in Spitzenhäubchen; ein Speisewirt hat einen weissgekleideten Koch ins Schaufenster gestellt, der an einem riesigen Spiess über einem lohenden Herd einen ungeheuren und dampfenden Braten wendet und wendet; sieht man näher zu, dann bemerkt man, dass der Herd kein Herd ist, die Kohlen nur rotes Glas sind, elektrisch beleuchtet, mit flackernden Stoffflammen dazwischen, die ein elektrischer Wind bewegt, und dass der appetitliche Dampf gar nicht von dem Braten kommt, sondern aus einer Röhre.
Paul Pauer blickt auf den Broadway und sieht kein Ende und keinen Wechsel. Haus an Haus, jedes magisch beschienen von den lockenden Lichtern; jedes Tor ist offen und saugt an der Menschenmenge, die doch nicht versiegt; ein Kino und ein Restaurant ist in jedem Haus, oder ein Restaurant und ein Theater; man ahnt Kilometer und Kilometer von illuminierten Fronten und superlativen Reklameschriften und romantisch klingenden Titeln von Filmen und völlig gleichen Menüs aus der gleichen Konservenbüchse. Da drinnen, hinter den beiden leuchtenden Fronten der Riesenstrasse muss lauter Musik sein, stets die gleiche Musik, doch nur selten sickert das Seufzen des Saxophons bis heraus auf die Strasse, kein einzelner Klang kommt hier auf gegen das allgemeine und majestätische Stromgetöse des Broadways.
Paul Pauer steht nur und starrt. Er ist in Amerika, weil er von dieser neuen Kunst einer neuen Zeit träumt, dem Film. Er ist, mit Claire, nach Hollywood unterwegs, in der Absicht, dort grosse und schöne Filme zu dichten. Zu dichten, so wie ein Dichter. Deswegen hat er eine Gelegenheit rasch benutzt; Matelian war es, der sie gefunden hat. Auf dem Weg ins ferne Traumland im Westen, nach Hollywood. Und hier nun ― ―
Der Mann, der wie ein Dichter Filmbilder dichten möchte, begreift sehr gut, was er hier jetzt sieht, gleich auf der Schwelle Amerikas. Das da gehört schon zu Hollywood. Diese Strasse ist doch das grosse Schaufenster Hollywoods; magisch beleuchtet und herrlich betitelt. Kilometer und Kilometer von Namen der Hollywood-Filme, in Leuchtbuchstaben nebeneinander geschrieben, von der Dreissigsten Strasse bis zur Sechzigsten, ohne Unterbrechung fast:
„ENTFESSELTE ELEMENTE MIT VILMA BANKY DIE GROSSE PARADE WAS KOSTET DER RUHM BARDELYS DER GROSSARTIGE MIT JOHN BARRYMORE MARY PICKFORD SPERLINGE IN PARIS GESTRANDET LUBITSCH - SUPERFILM DAS IST PARIS TOM MIX DIE PFERDERÄUBER VOM KAKTUS-CAÑON STROHEIM DIE LUSTIGE WITWE“ ― ― ―
Die leuchtende Schlange kriecht rastlos weiter, Buchstaben ringelnd; von hier aus umschlingt sie den Globus, das weiss Paul Pauer.
Auf dieser unfassbaren Strasse des Massenvergnügens erfasst ihn ein Grauen. Was tut er, um Gottes willen, denn hier, ein europäischer Künstler, der das Einzelne, Seltene lieb hat? Eine Million gleichförmiger Menschen kommt täglich her auf den Broadway, zwischen fünf und elf, um eine Pflicht zu erfüllen, eine Funktion, die Vergnügen heisst. Vorher, nachher und zwischendurch dieses Abendessen, aus allen Konservenbüchsen Chicagos in Amerikas Mägen geschüttet. Bohnen und Speck für alle, für alle. Oder, wenn die Seelen noch festlicher schwingen, Konservenhuhn. Eis-Cream nachher, mit Soda, ekelhaft süss. Da sitzen sie, mit ihren Frauen, und lieben alle die gleiche Liebe, aus der blechernen Büchse, und essen alle den Maschinenfrass; dann wollen sie (denkt sich Paul Pauer) am Ende die gleiche Konservenkunst, eine ekelhaft süsse. Den Film, in dem ein verwegener Held, ganz voll von Edelmut, ein edles Mädchen errettet; da krümmt sich der sterbende Bösewicht, am glücklichen Ende der Story ― ―
Was will ich hier, um Gottes willen, denkt sich Paul Pauer, mit meinen revolutionären Absichten? Diesen Konservenkonsumenten, diesen Massenhaften, etwas Einzelnes und Einziges geben, ein Kunstwerk? Wollen sie’s? Werden sie es ertragen? Bin ich ein Herakles, dass ich diese brennende Schlange entzweireissen könnte?
*
Und dann, auf einmal, befällt diesen zweifelnden Dichter das Selbstvertrauen wie ein narkotischer Rausch. Es ist doch auf dieser unendlichen Strasse des Lichts eine Menge von Freude, sogar von Schönheit ― ― Er blickt zu den magisch schimmernden Zinnen und Türmen der Gralsburg empor, des Paramount-Kinos. Warum nicht? fragt in seiner Seele die Stimme der Zuversicht. Ja! Einmal hier siegen, einmal nur; diese Lichtburg bezwingen, einen einzigen guten und menschlichen Film nur hier spielen lassen, und eine Schlacht ist gewonnen. Ein einziges Kunstwerk, denkt Paul, möchte ich hier mit Feuer auf diese feurigen Zinnen schreiben ― ―
Hollywood! denkt er, mit einer Sehnsucht. Er wird von Hollywood aus diese breite Strasse erobern, und dann die übrige Welt!
Da wird er froh in Gedanken, und er wendet sich zu Claire um, die hinter ihm ist, ihr zu zeigen, wie froh er ist. Sie steht, so wie er, schon seit zehn Minuten und redet kein einziges Wort. Matelian, drei Schritte weiter, hat sich ein wenig gelangweilt, er versteht die Verzückung dieser Berliner Kleinstädter nicht, die auf dem Broadway so tun, als wüssten sie gar nichts von Lichtreklame.
Er hat an der Strassenecke ein Abendblatt käuflich erworben und hält es halb entfaltet; er sucht was Bestimmtes darin, jetzt hat er’s und liest und lächelt befriedigt ― ―
Claire Pauer blickt nur auf einen Punkt:
„GRETA GARBO“, liest sie, „ALS DIE VERSUCHERIN“. Paul, neben ihr, errät ganz plötzlich, was sie eigentlich sieht, mit diesen weit geöffneten Augen. Sie sieht einen anderen Namen, einen, den sie einst getragen hat, ihren alten Bühnennamen.
„CLARA DARA.“
In Flammenlettern träumt sie den alten Namen, den sie verloren hat. Hier sollte der Name jetzt brennen! Paul liest ihn förmlich in ihren Augen und runzelt heftig die Stirne. Er hat diesen Namen immer gehasst.
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