Nach solchen Tagen rechnet, scheint es, der Lupu; wie ein Sträfling im Kerker. Paul Pauer, ganz hingerissen von der Schönheit, die er überall sieht, von der Sonne, den Blumen, den Kolibris, von den kleinen Häusern, hört verblüfft und ein wenig ungläubig zu. Das ist doch gewiss nur Pose und allenfalls Spleen? Weswegen sollte man hier denn nicht leben können? Aber Lupu, immer heftiger, schwört groteske Eide: an dem Tag, an dem er eine gewisse Summe erspart hat, eine geheime Summe, die er nicht nennt, an dem Tag fährt er fort von hier. Und wenn er den letzten Rest der Summe am Vormittag kriegt, beim heiligen Gott, er wartet nicht mehr bis zum Abendzug nach Chicago, obwohl der der beste ist; er fährt mit dem Zug fort, der gegen Mittag geht, am nämlichen Tage!
„Aber miesmachen will ich es Ihnen nicht, Doktor!“ beteuert Lupu am Schluss.
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Claire sieht mit den anderen, den weiblichen Augen die Wohnung an und findet kleine Fehler genug; eigentlich kommt es ihr doch wunderbar vor, dass sie ein Häuschen für sich allein haben sollen; sie wird ihren drei Freundinnen schreiben: eine Villa. Die Einrichtung besteht freilich vorwiegend aus Schaukelstühlen und Spucknäpfen. Wo, um Gottes willen, ist ein Schrank? Der dicke Manager der Sycamore Bungalow Courts öffnet einen Wandschrank, noch einen. Erst ganz am Schluss fällt es den Wohnungssuchern auf, dass sie in dem Häuschen alles gefunden haben, nur nicht ein Bett. Es stellt sich heraus, dass die riesigen Wandspiegel in jedem der drei Zimmer, die Claire bisher so sehr imponierten, die Betten sind. Man löst einen Haken, und der Spiegel sinkt aus der Wand zu Boden, entpuppt sich als die untere Seite des Klappbettes. Claire findet das reizend, Paul ein bisschen weniger. „Das ist ein Bett für euch Filmschauspieler,“ sagt er zu Lupu, „bei Tag lebt ihr gleichsam vor dem Spiegel, denn was ist denn die Kamera, und bei Nacht habt ihr einen Spiegel als Unterlage für eure Träume, wie?“
Von den dreien hat schliesslich nur Lupu Vernunft genug, um ordentlich danach zu fragen, ob Geschirr und Bettwäsche und dergleichen von der Bungalow Courts Company zu mieten seien und ob eine Aufwartefrau verfügbar ist. Paul Pauers Hauptsorge ist offenbar, ob auch in diesen Garten, in seinen Garten, die Kolibris kommen; Claire wieder hat eine leere Dachkammer entdeckt, und sagt, ganz unvermittelt: „Da könnte später der Martin wohnen!“ — Martin heisst ihr kleiner Sohn, der in Steglitz geblieben ist.
Da macht ihr Gatte sein nachdenkliches Gesicht, mit dem Faltenwinkel über der Nase. Er weiss nicht, er weiss nicht — —. Soll unter den Träumen an der Schwelle dieses kleinen Hauses auch ein Traum von Martin sein, wie er im Garten zwischen den Bungalows spielt, unter den breitblättrigen Bananenstauden, und die Kolibris flattern über seinen blonden Kopf?
Auch in dieser ersten Stunde des Besitzergreifens weiss Paul Pauer nicht, ob er das wünschen soll. Diese kalifornische Sonne ist wunderbar, aber — —.
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Frau Claire findet ihren neuen Bungalow so lange reizend und ist so lange geneigt, vor sich selbst ein klein bisschen damit zu prahlen und sich Briefsendungen auszudenken, für ihre drei Freundinnen, bis Lupu sie um die Teestunde zu Lotto Heller fährt; er hat mit seiner Frau verabredet, dass sie hinkommen. Karl Erich, Lottos Mann, ist nur ein mittleres Licht, ein Regisseur mit fünfhundert Dollars wöchentlich, aber das Haus an der Vine Street, in den Bergen über dem Hollywood Boulevard, ein Haus in spanischem Stil und ungemein antik, obwohl es noch keine drei Monate steht und aus steinfarbener, hohler Pappe ist, kommt Claire mit seinen acht Zimmern und der schönen, mittleren Halle und mit einem Orangengarten am Abhang des Berges so unglaublich schön vor, so phantastisch millionärhaft, dass ihr die Lust vergeht, sich was auf das hölzerne Bungalow einzubilden. Zwei Autos haben die Hellers, den Buick, mit dem Karl Erich ins Studio fährt, und einen winzigen Chevrolet, für Lotto, wenn sie allein in die Stadt muss. Sie lernt selbst chauffieren, aber sie haben einen Diener für alles, einen schlanken, braunen Filipino, der kann auch das —.
An diesem Abend, da Claire schon in dem neuen Bett liegt, dessen Boden ein grosser Spiegel ist, steigen seltsame und begehrliche Träume aus dem Spiegel auf, und Wünsche fluten in den Spiegel zurück; während Paul, von Magie nicht betroffen, noch lange Zeit schlaflos im Nebenzimmer auf seinem Spiegel liegt, der ihm nicht viel zu sagen hat, ausser vielleicht, dass ein Spiegel eine harte Unterlage ist für eine recht dünne Matratze.
Am Sonntag vormittag tut Paul so, als ob er beim Auspacken des grossen Koffers helfen wollte, aber Claire kann den Unordentlichen nicht gebrauchen und schickt ihn fort. Er geht also spazieren, die Western Avenue hinauf, bis zur Kreuzung mit dem Hollywood Boulevard, und dann den Boulevard entlang, ein gewaltiges Stück; auf den Hügeln nördlich von dem Boulevard muss nach dem Stadtplan ein grosser Park sein; eine Parkbank in der wundervollen kalifornischen Sonne ist jetzt das richtige. Paul kommt langsam vorwärts; die grosse Geschäftsstrasse ist so voll von Autos. An jedem Strassenübergang muss man eine Minute warten, bis ein Klingelsignal ertönt, das bedeutet: „Stop!“ Zwanzig Sekunden später wieder ein Signal. Der metallene Arm eines Wegweisers, automatisch bewegt, weist in die Richtung, in der man jetzt weitergehen kann, und eine Schrift auf dem Wegweiser befiehlt: „Go!“ „Geh!“ Paul Pauer bummelt gemächlich und bleibt vor schönen Geschäften stehen, die heute am Sonntag geschlossen sind, deren Schaufenster aber offen bleiben: vor einem chinesischen Kuriositätengeschäft mit bunten Seiden und amüsanten Elfenbeinschnitzereien, und vor einem Geschäft, das Indianer-Kunstgewerbe vertreibt, rote und graue Wolldecken der Navajos, mit prachtvollen Mäandern durchwirkt, und hübsch dekorierte Töpfe und Körbe, in die das Bild des Donnervogels eingeflochten ist und der Schlange; dann wieder steht er ein wenig vor einem Fenster, in dem ein Quadrat aus mattem Glas aufgestellt ist; dahinter arbeitet ein kleiner Projektionsapparat, und auf der Glasscheibe erscheinen einzelne Szenen aus den sensationellsten Films, die jetzt eben in den Hollywooder Kinos laufen, der Reklame halber: zwei Minuten lang sieht man Douglas Fairbanks mit einem Degen zahllose böse Gegner niederfechten, in altspanischer Tracht, und dann sieht man wieder zwei Minuten lang das Lächeln der Gloria Swanson. An vielen Kinos kommt Pauer vorbei, am Hollywood Boulevard liegen so viele Kinos, wie anderswo an einer Hauptstrasse Tabakläden liegen mögen. Syd Graumans „Ägyptisches Theater“ sieht fast genau so aus wie der grosse Tempel von Karnak, als er protzig-funkelnagelneu war: mit einer grossen Sphinx in dem säulenumgebenen Vorhof, in dem an einem Springbrunnen Papyrusstauden wachsen; neben der Sphinx steht eine altertümliche, eiserne Kanone, die deutet auf den grossen Film hin, dessen Première bevorsteht: „Old Ironside.“
Dem Ägyptischen Kino gegenüber ist das „Hotel Hollywood“, in einem schönen Garten; hier muss, nach dem Stadtplan, der Boulevard überschritten werden, wenn man den Park erreichen will, und dann ― ― Paul Pauer, vor dem Hotel stehend, entfaltet den Plan, den er sich da gestern gekauft hat: eine sehenswerte Landkarte, mit Bildern mitten darin; hier ist Douglas Fairbanks gemalt, wie er mit seiner grossen mexikanischen Peitsche um sich schlägt, das bedeutet die Stelle, wo sich sein Studio befindet; und dort stehen Charlie Chaplins riesige Füsse auf dem Punkt der Karte, wo sein Atelier ist; und Erich von Stroheim stolziert steif einher, als preussischer Leutnant, und in einem See von Tränen residiert die sentimentale Lilian Gish. Jetzt hat Paul Pauer den Boulevard verlassen und steigt langsamer empor, durch stille Strassen, mit Palmen rechts und Palmen links, die vor lauter kleinen Villen stehen; von den Kronen der Palmen hängen alte, welke Zweige herab und bilden merkwürdige Vliese und Röckchen; eine Palme sieht aus wie ein Kamel mit einem zottigen Hals und eine wie ein Kannibalenprinz. Hier, denkt sich Paul, ist gut spazierengehen: es sollten Bänke da stehen, vor dem breiten Rasenstreifen, den hübschen, kleinen Gärten, in denen die roten Sternblumen der Poinsettia leuchten und die vielen, vielen Orangen; aber es ist keine Bank da, weil kein Spaziergänger da ist, kein einziger (ausser dem Deutschen, der da ganz ohne Auto durch diese Strasse wandert). Und später, da er auf asphaltierten Serpentinen das letzte Stück zu dem Park hinaufsteigt, bemerkt er staunend, dass auf Fussgänger überhaupt nicht gerechnet wird, die etwa zum Park gehen könnten; es ist kein Gehweg da neben der engen Autostrasse, durch die fortwährend Wagen rasen, aufwärts und abwärts.
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