In knappen Worten berichtete der Meister der Todeszeremonie von der Fälschung der alten Schriften und der Aufzeichnungen Murbolts, von seinem Eindringen in die Rotunde und dem Verschwinden Ulbans. Er schloss mit den Worten: „Ich bin davon überzeugt, dass entweder in der Rotunde oder hier in Derfat Timbris der Schlüssel liegt.“ Rakoving nickte nachdenklich und gab ein weiteres Handzeichen. Daraufhin verließen Schaddoch und seine Begleiter ihre Verstecke und näherten sich den beiden Männern. Währenddessen erzählte der ehemalige Eremit von seiner Suche nach Selazidang und den Entdeckungen, die er dabei gemacht hatte.
„Gibt es irgendeinen Anhaltspunkt, wo man mit den Nachforschungen über das Geheimnis von Derfat Timbris beginnen könnte?“, fragte er zuletzt.
Roxolay kraulte sich gedankenverloren am Kinn. „Derfat Timbris war ein geweihter Ort“, meinte er. „Es gibt hier viele Tempelanlagen und sonstige Heiligtümer. Die einzige Anlage, die aus dem Rahmen fällt, ist die Arena. Wenn jemand in der Blütezeit einen Ort für ein unauffälliges Versteck gesucht hat, zu dem jedermann jederzeit Zutritt hatte, könnte das in jener Umgebung gewesen sein. Dort sollten wir jedenfalls anfangen.“
*
Die Frau war eindeutig erregt und verlegen. Sestor hatte noch nie eine erregte und verlegene Zogh gesehen. Sie mochte um die vierzig Jahre alt sein und hatte sich die herbe Schönheit der grauhäutigen Gebirgsmenschen bewahrt.
„Wie alt warst du damals?“, wollte Prandorak wissen.
„So genau weiß ich das nicht mehr“, erklärte die Frau ausweichend. „Ich bin noch ein Kind gewesen. Ich kann mich nur noch gut daran erinnern, wie ich auf dem nassen Pfad abrutschte und in die Spalte fiel. Dort blieb ich an einem Baum hängen. Ich habe geschrien, aber es dauerte eine Ewigkeit bis ich endlich herausgezogen wurde. Dann sah ich in das weiße Gesicht dieser wunderschönen Frau, die mich gerettet hat.“
„Du bringst ihr auch heute noch Opfergaben?“, fragte der Herold unverfänglich.
„Ja“, antwortete die Zogh. „Obwohl sie wahrscheinlich längst nicht mehr lebt. Aber ich bin ihr unendlich dankbar und finde darin meinen Seelenfrieden.“
„Und weshalb trägst du die Sachen in die Trellinda-Höhle?“, bohrte Prandorak weiter.
„Dort hat sie mich hingebracht und versorgt, nachdem sie mich gerettet hatte. Aber warum fragt ihr das alles? Was wollt ihr von der Weißen Frau?“
„Wir wollen sie retten“, mischte sich Sestor ein. „Menschen, die genauso aussehen wie die Weiße Frau, verfolgen sie. Vor denen wollen wir sie warnen.“
„Aber du hast ja gesagt, dass du nicht weißt, wo sie sich aufhält“, unterbrach ihn Prandorak. „Wir haben jetzt keine Fragen mehr. Du kannst gehen.“
Nachdem sie gegangen war, warfen sich die beiden Männer einen kurzen Blick zu und nickten. Wieder einmal dachten sie das Gleiche und brauchten es nicht auszusprechen. Beide waren davon überzeugt, dass die Frau sie zu Larradana führen würde. Prandorak schickte nach einem der ihm unterstellten Boten. Diesem befahl er, die von der Replica gerettete Frau zu überwachen und ihm sofort Bescheid zu geben, sobald sie ihr Haus mit Opfergaben verlassen würde.
Bereits am nächsten Morgen war es soweit. Der von Prandorak ausgesandte Bote berichtete, dass sich die Frau mit ihrem Korb zur Trellinda-Höhle aufgemacht hatte. Der Herold und der Eisgraf schlangen die Reste ihres Frühstücks hinunter und brachen dann ebenfalls auf.
Ihr Weg führte sie über den steinigen Sordas-Rücken, der in einer windgeschützten Lage von hohen Gipfeln einiger gewaltiger Bergmassive umgeben war. Sie kamen immer wieder an ausgewaschenen Felsmulden vorbei, in denen sich knorrige Krüppelbäume, die winzigen, gelben Lederblümchen und das harte, blaue Sefirgras angesiedelt hatten. Ansonsten gab es außer Moosen und Flechten in dieser Höhe kaum Vegetation. Am Ende einer zweistündigen Wanderung erreichten Sestor und Prandorak schließlich die Kante des Bergkamms. Nach einem kurzen Abstieg gelangten sie zum Eingang der einsamen, weit von den bevölkerten Höhlen entfernt liegenden Trellinda-Kaverne.
Gedankenschnell duckten sich beide Männer hinter einem Geröllbrocken. Gerade stand die Zogh-Frau im Begriff, die Höhle zu verlassen. Nachdem sie sich außer Sichtweite befand, betraten Sestor und Prandorak die Höhle. Sie war nicht besonders groß, ihr Erscheinungsbild dagegen außergewöhnlich. Auf der rechten Seite verlief eine Felsrampe, wie ein breiter Weg mit einer Brüstung, bis fast zur Höhlendecke. Dort endete die Rampe unvermittelt vor der gewachsenen Wand. In der linken, hinteren Ecke hatte sich aus dem Gestein eine balkonartige Galerie ausgebildet, die nahezu künstlich wirkte. Graue Adern durchzogen die im Licht der einfallenden Sonne glitzernden Wände.
„Ilumit und Bergkristalle“, murmelte Sestor.
Den Korb mit den „Opfergaben“, den die Zogh im hinteren Teil der Höhle abgestellt hatte, fanden die beiden Männer unberührt vor.
Sie näherten sich dem Korb und stellten fest, dass er mit Früchten und den nahrhaften Wurzeln des Sogorth-Strauchs gefüllt war.
„Der Herold der Höhlen und ein Eisgraf. Welch eine Ehre!“ In der wohlklingenden Stimme schwang ein belustigter Unterton. Die beiden Männer fuhren herum. Noch in der Drehung überkam Sestor die verstörende Erkenntnis, dass er tatsächlich nicht in der Lage sein würde, von seinem „vernichtenden Blick“ Gebrauch zu machen.
Die Weiße Frau lehnte lässig an einer von drei unregelmäßigen Felssäulen, die bis zur Decke der Höhle empor reichten.
Als sie die Sprachlosigkeit der Männer gewahrte, fügte sie sarkastisch hinzu: „Ihr seid also gekommen, um mich vor einer Gefahr zu warnen, die mir seit mehr als fünftausend Jahren bekannt ist.“
„Das war nur ein Vorwand“, gab Sestor unumwunden zu. „Ich habe das nur deshalb zu der Frau gesagt, weil ich mit Euch sprechen wollte. Ich weiß, dass Ihr auf der Flucht seid. Könnt Ihr Euch aber ewig verstecken? Die Eisgrafen sind die Beschützer der Eisbäume. Die Eisbäume sind jedoch fest an einem Ort verwurzelt. Sie können nicht fliehen, wenn sie bedroht werden. Also ist die Flucht auch niemals eine Lösung für diejenigen, die zu ihrem Schutz ausersehen sind. Als ich darüber nachgedacht habe, bin ich auf eine wichtige Frage gestoßen: Kann Flucht überhaupt eine Lösung sein? Solltet Ihr nicht in Erwägung ziehen, den Kampf anzunehmen?“
Larradana nahm nun zum ersten Mal das Bild des Eisgrafen mit einem gewissen Interesse durch die schwarzen Sehschlitze ihrer gelben Augen in sich auf.
„Ihr seid ein bemerkenswerter Mann, Graf Sestor“, stellte sie fest. „Ihr seid nicht hergekommen, um mich zu warnen. Aber Ihr seid auch nicht hergekommen, um mir gute Ratschläge zu erteilen. Was also wollt Ihr wirklich?“ Mit einer fahrigen Bewegung wischte sich Sestor den Vorhang seiner schwarzen Haare aus dem Gesicht: „Die Wahrheit ist: Ich suche die Wahrheit.“
*
Zwischen den beiden völlig unterschiedlichen Lebensformen hatte sich unbewusst eine stillschweigende Übereinkunft herausgebildet. Wenn Jalbik Gisildawain an seinem Lieblingsplatz auf dem Hügel Karadastak saß, zog sich der Mon’ghal vollständig aus dem Geist des Freibeuterkapitäns zurück. So konnte der Mann von Borgoi seine Gedanken frei schweifen lassen, wenn er das wunderschöne Panorama der Klippen von Trofft und der Wasischen Atolle genoss, die der Insel im Westen vorgelagert waren.
Stets löste dieser Anblick der unendlichen Weiten des Meeres eine unstillbare Sehnsucht in dem Mann aus, der die meiste Zeit seines Lebens auf hoher See verbracht hatte.
Der Mon’ghal befand sich währenddessen in einem Dämmerzustand. Er hatte feststellen müssen, dass sich der geistige Kontakt zu den Menschen von Borgoi für ihn wesentlich schwieriger und damit auch anstrengender gestaltete als zu den Obesiern. Unmerklich, aber stetig waren die Zeiten länger geworden, in denen er vollkommene Ruhe benötigte.
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