1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 „Du hast ja jetzt ausreichend Gelegenheit, die Höhlen kennenzulernen“, versprach der Herold. „Aber erzähle mir: Worum geht es eigentlich bei der Suche nach dieser Weißen Frau?“
„Telimur und Königin Quintora glauben, dass diese Frau namens Larradana die Stammmutter der Pylax und deshalb vor den anderen Replicas geflohen ist. So steht es jedenfalls in einer alten Schrift, die nach der Meinung des Königspaars gefälscht wurde“, berichtete Sestor. „In dem Buch steht jetzt, Larradana sei getötet worden. Telimur will beweisen, dass dies eine Fälschung ist, und vor allem will er den Grund für diese Fälschung herausfinden.“
Prandorak schüttelte verständnislos den Kopf: „Wegen eines Buches jagen wir ein Phantom?“
„Ich finde das ziemlich spannend“, grinste Sestor. „Wenn die Geschichte allerdings stimmt, kann es ganz schnell sehr gefährlich werden. Die Weiße Frau soll über ungeheure Kräfte verfügen, wohingegen angeblich meine besonderen Fähigkeiten als Eisgraf in ihrer Gegenwart versagen. Das glaubt jedenfalls Quintora.“
Prandorak wusste, dass Sestor damit den „vernichtenden Blick“ meinte.
„Meine Boten haben die Frau überwacht, die angeblich als Kind von einer Replica gerettet wurde“, berichtete er. „Sie bringt regelmäßig Opfergaben in eine Höhle.“
„Opfergaben?“, sinnierte Sestor. Ein Blick in Prandoraks Augen bestätigte ihm, dass der Herold das Gleiche dachte wie er. Bereits nach einem dreistündigen Ritt hatten sie jahrhundertealte Barrieren durchbrochen und ein wechselseitiges Verständnis entwickelt, das oft keiner Worte bedurfte. Sie bestiegen wieder ihre Pferde und ritten den restlichen Weg durch den „Saum“, die Hügellandschaft in den Ausläufern des Aralt. Am frühen Abend erreichten sie eine kleine Ortschaft am Fuß des Toipengeh, wo ihr Aufstieg in das Hochgebirge beginnen sollte. Dort kehrten sie in einer kleinen Herberge ein. Bei Höhlenbier und einer deftigen Mahlzeit scherzten und lachten die beiden Männer bis tief in die Nacht hinein. Bei ihrem Anblick hätte niemand vermutet, dass sie im Begriff standen, eine Katastrophe auszulösen.
*
Aus dem Bewacher war ein Mann geworden, der nun seinerseits bewacht wurde. Seit vielen Monaten wurde Xaranth in einem geräumigen Kellerraum gefangen gehalten. Dieser Raum gehörte zum herrschaftlichen Landsitz des freien Kapitäns Jalbik Gisildawain auf einem idyllisch gelegenen Hügel der Insel Borgoi. Fenster und Türen des privaten Kerkers waren mit dicken Eisenstäben vergittert. Für den Bewacher der Gruft wären dies keine Hindernisse gewesen, wenn er noch über seine Salastra hätte verfügen können. Er hatte diese schreckliche Waffe jedoch geopfert, um sich selbst zu retten. Xaranth erinnerte sich noch haargenau an die Sekunden bevor der tosende Orkan sein Schiff zerfetzt und ihn über Bord gefegt hatte. In dem Augenblick, als er die Salastra ins Meer fallen ließ, brach er den Jahrtausende alten Schwur. Aber gleichzeitig rettete er damit sein Leben. Nur – was war das nun für ein Leben?
Der Freibeuterkapitän hatte ihn aus dem südlichen Ozean gefischt und hielt ihn seitdem gefangen. Jalbik Gisildawain ahnte, dass der außergewöhnlich große, hagere Mann mit den fremdartigen, gelben Augen etwas Besonderes darstellte. Allerdings war es ihm bisher immer noch nicht gelungen, herauszufinden, wer bereit sein könnte, für seinen unfreiwilligen Gast ein stattliches Lösegeld zu zahlen.
Wenngleich der Kapitän auch nicht die gefährliche Aura spürte, die den Gefangenen umgab, so hatte er sich doch stets bemüht, ihm den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Er besorgte ihm alle gewünschten Speisen und Getränke, soweit dies in seiner Macht stand. Wenn er nicht gerade zur See fuhr, leistete er ihm oft stundenlang Gesellschaft. Dennoch kam es nie zu einem wirklich tiefgründigen Gespräch – nicht bis zu diesem Abend.
„Es geht Ihnen nicht um ein Lösegeld“, behauptete Xaranth. „Das erzählen Sie nur, weil Ihre Mannschaft das hören will.“
„Wie kommen Sie auf diese Idee?“, fragte Jalbik Gisildawain, scheinbar verwundert.
„Nur Menschen streben nach Reichtum“, erwiderte der Bewacher der Gruft. „Sie sind aber keine menschliche Lebensform. In all den Monaten meiner Gefangenschaft und unserer Begegnungen habe ich Ihr Verhalten sorgfältig studiert. Sogar Ihre Augen sind anders als diejenigen der Menschen.“
Es trat eine lange Pause ein. Dann sagte Jalbik Gisildawain: „Sie irren sich zumindest in einem Punkt. Vor Ihnen steht tatsächlich ein Mensch. Nur spricht nicht er zu Ihnen, sondern ich.“
Aus der Brusttasche des Freibeuters krabbelte ein kleines, schwarzes, raupenartiges Wesen. „Die Obesier nennen uns Mon’ghale“, fuhr der Kapitän fort. „Ich nehme an, Sie wollen mir einen Handel vorschlagen.“
„Dazu müsste ich zuerst einmal wissen, womit ich Ihnen überhaupt helfen kann“, belehrte Xaranth mit seiner unangenehm sägenden Stimme den Mon’ghal.
„Für die Fortpflanzung unseres Volkes ist eine Ovaria erforderlich, eine Stammmutter“, erklärte der Mon’ghal durch den Mund des Kapitäns. „Die Gute Mutter in Obesien wurde von einer Eisgräfin getötet. Jetzt gibt es nur noch eine schlummernde Ovaria. Sie ist die Einzige, die den Fortbestand meines Volkes sichern könnte. In Obesien befindet sie sich jedoch in großer Gefahr. Sie muss in Sicherheit gebracht werden.“
Xaranth steckte in einem Dilemma. Solange er die Salastra trug, war es ihm verboten gewesen, Tätigkeiten zu übernehmen, die nicht mit der Bewachung der Gruft und der Goldenen Pforte in Zusammenhang standen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, ob sich daran nun etwas geändert hatte. Dagegen wusste er mit tödlicher Sicherheit, dass er auf keinen Fall einen Fehler begehen durfte. Es gab Mächte in dieser Welt, gegen die selbst ein Bewacher der Gruft völlig hilflos war. Durch seinen Schwur hatte er sich diesen Mächten ausgeliefert, auch wenn er diesen Schwur gebrochen hatte. Es gab weitaus Schlimmeres als dieses Gefängnis.
„Ich brauche drei Tage Bedenkzeit“, sagte er ungewöhnlich leise.
Er wusste nicht, wie seine Entscheidung aussehen würde, und dies erfuhr er auch nie. Die Entscheidung wurde ihm kurz vor Ablauf der selbst gesetzten Frist abgenommen.
*
Die Erregung des Rektors steigerte sich noch mehr als er den Eindruck gewann, dass bei diesem Angriff die Waffen einer Frau sehr gezielt eingesetzt wurden. Und das auch noch von zwei Frauen. Es fiel ihm schwer, seinen Blick von den lasziv übergeschlagenen Beinen seiner beiden Besucherinnen loszureißen. Die ohnehin kurzen Kittel waren im Verlauf des Gesprächs bis zum Ansatz der Oberschenkel hochgerutscht. Was als harmloser Versuch begonnen hatte, die Überzeugungsbildung des Gesprächspartners zu beeinflussen, schien nun in einen Wettbewerb zu münden. Spätestens als auf den markant männlichen Zügen des ebenso charmanten wie gebildeten Rektors dieses gewinnende Lächeln erschien, statt eines lüsternen Grinsens, wurde den Zwillingen erstmals in ihrem Leben bewusst, dass dieses eine Exemplar nicht für zwei Frauen ausreichen würde.
Den Rektor seinerseits plagte das gegenteilige Problem. Es wollte ihm einfach nicht gelingen, sich auf einen Teil dieses äußerst attraktiven Duos festzulegen.
„Man hat mich gegen meinen Willen zu einer Symbolfigur erhoben“, erklärte er zaudernd. „Wenn ich jetzt nach Modonos ginge, könnte dies den zerbrechlichen Frieden im Osten und auch den Zusammenhalt des Ordens gefährden.“
Die Zwillinge verständigten sich durch einen kurzen Blick. Dann sprach Teralura.
„Es wäre ja nur vorübergehend“, sagte sie mit einschmeichelnder Stimme. „Bis Sie zu einem Abschluss Ihrer Studien gekommen sind.“
„Wenn Roxolays Annahmen zutreffen, werden aber sehr gründliche und langwierige Studien erforderlich sein“, gab Zyrkol zu bedenken. „Man müsste dann versuchen, sämtliche Stellen aufzuspüren, die in den alten Schriften verändert wurden. Die Nachforschungen sollten sich vielleicht nicht nur auf das „Buch der Vorzeit“ beschränken.“
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