„Das werde ich wohl Ihnen überlassen müssen“, vermutete Atarco.
„Dann wären wir uns einig“, bestätigte Brinngulf Sterndek. „Sobald die Zeit gekommen ist, wird sich ein Mitglied des Inneren Zirkels an Sie wenden und Sie als Nachfolger Ihres Vaters vorschlagen. Er wird behaupten, Ulban tot gesehen zu haben. Das wird eine Lüge sein. Ihr Vater wird friedlich an einem versteckten Ort dieser Welt seinen Lebensabend genießen können.“
Die Sterndek-Geschwister wandten sich zum Gehen, aber Atarco hielt sie nocheinmal zurück.
„Eine Frage hätte ich noch“, sagte er. „Was verlangen Sie als Gegenleistung?“
„Vorerst nichts“, erwiderte Tannea Sterndek. „Falls wir irgendwann einmal eine kleine Gefälligkeit benötigen sollten, würden wir auf Sie zurückkommen.“
*
Die gemeinsame Reise auf dem breiten Lumbur-Strom hatte nicht dazu beigetragen, dass Baron Schaddoch seinen Begleiter als weniger unheimlich empfand. Dabei hatte er jahrzehntelang unter den schlimmsten Schurken des Kontinents gelebt. Aber zwischen diesen Halunken und dem neuen Gefährten des ehemaligen Verbrecherkönigs von Surdyrien lagen Welten. Noch im Schlossgarten von Doinat hatte Korvinag auf unerklärliche Weise sein Äußeres verändert und anschließend auch gleich noch seinen Namen. Er nannte sich jetzt Rakoving und sah mit seinen gestrafften Gesichtszügen, der kräftigen Statur und dem braunen Lockenschopf gleich vierzig Jahre jünger aus.
Nach ihrem Eintreffen in Dirtos begaben sich Schaddoch und Rakoving auf kürzestem Weg in eine der übelsten Spelunken, die die Hauptstadt Surdyriens aufzubieten hatte. Und in dieser Hinsicht hatte Dirtos mehr zu bieten als jede andere Stadt auf dem Kontinent. Der Anblick der Gäste im Schankraum hätte zart besaitete Menschen in Angst und Schrecken versetzt, obgleich Einzelheiten im trüben Licht des rauchgeschwängerten Raumes kaum zu erkennen waren. Der Mief vergorener Getränke vermischte sich mit abstoßenden Körperausdünstungen und dem durchdringenden Geruch des Saffagass-Krauts, einer berauschenden Droge. Schaddoch steuerte von alledem unbeeindruckt mit zielgerichteten Schritten auf eine kleine Tür in der hinteren Wand des Gastraums zu. Sie führte zu einem offenen, von zwei seitlichen Mauern begrenzten Durchgang. Am Fuß der rechten Mauer entlang verlief eine Rinne, in der Reste von Fäkalien einen entsetzlichen Gestank verbreiteten. Deshalb beeilten sich die beiden Männer, das am Ende des Durchgangs befindliche Scheuertor zu erreichen. In einem unregelmäßigen, aber dennoch offenbar festgelegten Takt klopfte Schaddoch so lange dagegen bis es einen Spaltbreit geöffnet wurde. Schaddoch und Rakoving schlüpften durch den Spalt hinein. Danach wurde das Tor sofort wieder geschlossen und verriegelt. Das Innere der Scheune erinnerte an einen Versammlungsraum mit einer Vielzahl von Tischen und Stühlen. Außer dem Mann, der die Tür geöffnet hatte, war jedoch niemand anwesend.
„Baron Schaddoch!“, rief er erfreut. „Wir haben schon gedacht, Sie würden überhaupt nicht mehr nach Surdyrien zurückkehren.“
„Das hatte ich eigentlich auch nicht vor, Iplokh“, entgegnete der Baron. „Ich bin nur auf der Durchreise. Glauben Sie, dass Sie ein paar Männer für eine gefährliche Mission zusammenbekommen könnten?“
„Jeden, den Sie gerne haben würden“, versprach Iplokh.
„Gut“, nickte Schaddoch befriedigt. „Wo sind Shrogotekh, Wurluwux, Jalbik Truchardin und Kamgadroch?“
„Wurluwux ist in Lumbur-Seyth. Alle anderen sind in Surdyrien“, erwiderte Iplokh. „Shrogotekh und Kamgadroch sind hier in Dirtos, Jalbik ist in Albiros.“
„Ich möchte, dass Sie wissen, worauf Sie sich einlassen“, warf Rakoving ein. „Ich muss davon ausgehen, dass der gefährlichste Mann auf dem ganzen Kontinent den Auftrag erhalten hat, Baron Schaddoch und mich zu töten. Wir müssen ihm zuvorkommen. Das hört sich zwar einfach an, ist es aber nicht. Dieser Mann verfügt über Kräfte und Verbündete, die jenseits Ihrer Vorstellungskraft liegen. Nicht umsonst nennen ihn die Eingeweihten den „Meister der Todeszeremonie“. Eine Zeitlang hat er sogar Eisgrafen gejagt und zur Strecke gebracht.“ Rakoving hätte nun ein unbehagliches Schweigen erwartet, aber Iplokh winkte nur leichtfertig ab und entgegnete voller Stolz: „Die Männer, von denen Baron Schaddoch gesprochen hat, sind bisher noch mit jeder Bedrohung fertig geworden. Sie haben ein Jahrhunderte lang besetztes Land in nur wenigen Wochen befreit. Wir fürchten uns vor nichts und niemandem.“
„Außerdem sind Sie ja bei uns“, grinste Schaddoch den verwandelten Einsiedler an. „Ich glaube kaum, dass irgendjemand gefährlicher ist als Sie.“
„Danke für Ihr Vertrauen“, gab Rakoving trocken zurück. „Aber im Gegensatz zu Roxolay verfüge ich nicht mehr über unvorstellbar mächtige Verbündete, nur noch über unvorstellbar mächtige Feinde.“
„Sie haben jetzt uns als Verbündete“, bekräftigte der Baron selbstbewusst und wandte sich an Iplokh: „Verständigen Sie Kamgadroch und Shrogotekh! Kamgadroch soll zu Jalbik und Wurluwux reiten. Sie und Shrogotekh begleiten uns nach Obesien. Wir treffen die anderen in genau achtzehn Tagen von heute an gerechnet in der Ruinenstadt Derfat Timbris.“
*
Unitor schüttelte entrüstet den Kopf: „Das ist völlig unmöglich. Wir sind die Beschützer der Eisbäume. Warum sollten sie uns töten wollen?“
„Vielleicht hat dieser seltsame Mann Unsinn geredet“, pflichtete Telimur ihm bei. Abgesehen von Berion war er der einzige Priester des Wissens, der jemals an einer Besprechung in dem allein den Eisgrafen vorbehaltenen Saal im Quaralpalast teilnehmen durfte. Nicht einmal als jetziger Prinz von Mithrien stand ihm ohne ausdrückliche Einladung dieses Privileg zu.
„Ich bin absolut sicher, dass der Baum zu mir gesprochen hat“, beharrte Quartor, der schon eine ganze Weile kategorisch alle Einwände zurückwies.
„Keiner von uns hat den Bäumen etwas zuleide getan“, warf Septimor ein. Eine Stille der Ratlosigkeit breitete sich aus.
Dann sagte Telimur plötzlich: „Wenn ich Quartor richtig verstanden habe, geht es nicht darum, dass ihr etwas Falsches getan habt. Offenbar fühlt sich das Geflecht der alten Wesenheiten durch jemand anderen bedroht.“
„Aber was hat das mit uns zu tun?“, wollte Quintora wissen.
„Die meines Erachtens einzig denkbare Erklärung wäre, dass das Geflecht befürchtet, ihr könntet euch auf die Seite dieses Wesens stellen, das der Baum den „Kettenhund“ genannt hat“, mutmaßte Telimur, hielt jedoch plötzlich mitten in der Bewegung inne und wurde leichenblass.
„Was ist los?“, fragte Quintora ihren Gatten.
„Ich habe die ganze Zeit von euch geredet“, murmelte der Priester des Wissens stockend. „Aber ich befürchte, dass ich auch selbst betroffen bin. Schließlich bin ich ein Spiritant. Wir Spiritanten haben letztlich die gleiche Beziehung zu alten Riesenbäumen wie ihr zu euren Eisbäumen. Und es kommt noch schlimmer: Ich glaube zu wissen, wer der „Kettenhund“ ist.“
Alle Eisgrafen sahen ihn bestürzt an.
Daher erklärte Telimur weiter: „Das Geflecht der alten Wesenheiten ist augenscheinlich nicht in der Lage, Fehlentwicklungen selbst zu berichtigen und Dinge ins Gleichgewicht zu bringen. Es muss sich dazu eines menschlichen Vollstreckers bedienen.“
Nun erbleichte auch Unitor.
„Du meinst den Meister der Todeszeremonie?“
Telimur nickte.
„Wenn es sich tatsächlich um Roxolay handelt, kann ich jedenfalls für meine Person nicht gewährleisten, auf wessen Seite ich stehe. Vor allen Dingen solange ich nicht weiß, worum es bei dieser Auseinandersetzung überhaupt geht. Das bedeutet aber zugleich, dass die Befürchtungen des Geflechts möglicherweise nicht unbegründet sind.“
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