1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 „Da muss ich dir zustimmen. Die Platte wurde völlig fugenlos eingesetzt. Das legt den Schluss nahe, dass sie nicht als Abdeckung erkannt werden sollte. Wir müssen sie wohl zerstören wenn wir den Schacht öffnen wollen.“
Ulban starrte ihn entgeistert an.
„Das ist ein Heiligtum. Es wurde selbst beim Bau des Inneren Zirkels nicht angetastet“, stammelte er.
Roxolay verschränkte die Arme vor der Brust.
„Jemand hat das wichtigste Buch der Menschheit und damit unsere Geschichte verfälscht“, rief er in Erinnerung. „Man kann es auch anders ausdrücken: Wir sollen in die Irre geführt werden. Ich betrachte das zugleich als Bedrohung. Glaubst du wirklich, ich ließe mich von einer lächerlichen Steinplatte davon abhalten, die Wahrheit herauszufinden?“ In diesem Augenblick ging von dem ehemaligen Meister der Todeszeremonie etwas Bedrohliches aus. Der Höchste Priester wich einen Schritt zurück.
„Besorge das notwendige Werkzeug!“, forderte Roxolay ihn in einem Ton auf, der keinen Widerspruch duldete.
Ulban wandte sich der Tür zu, aber Roxolay rief ihn noch einmal zurück: „Lass den Schlüssel hier!“
Ohne Widerspruch händigte der Höchste Priester dem Mann aus Rabenstein den Schlüssel zur Rotunde aus, den dieser eigentlich nicht besitzen durfte. Dann verließ er den uralten Kuppelbau, um eine Spitzhacke und einen schweren Hammer zu besorgen.
Nachdem es ganz still im Inneren der Rotunde geworden war, kniete sich Roxolay auf die kreisförmige Platte. Dabei fand er bestätigt, was er bisher eher geahnt als gefühlt hatte. Nur er als Spiritant konnte die feinen, für andere Menschen nicht wahrnehmbaren Schwingungen spüren, die offensichtlich aus der Tiefe des Schachts kamen und die Abdeckplatte durchdrangen.
Roxolay wartete zwei Stunden. Der Höchste Priester hätte längst zurück sein müssen. Schließlich fand sich der ehemalige Meister der Todeszeremonie mit den nicht mehr zu leugnenden Tatsachen ab: Ulban würde nicht mehr kommen; ihm war etwas zugestoßen.
Roxolay verließ die Rotunde und verschloss sie. Er begab sich zu seinem verborgenen Zimmer und von dort aus durch den Geheimgang zu der unscheinbaren Scheune auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Vorerst waren seine Nachforschungen gescheitert.
*
Die schwarzhaarige Frau in dem braun gestreiften Gewand kam Ulban gerade recht.
„Würden Sie mir bitte eine Spitzhacke und einen schweren Hammer besorgen?“, bat er sie.
Die nette Dame mit der schlimmen Narbe im Gesicht nickte freundlich und entfernte sich mit einem „Gerne, Eminenz“, obwohl ein gewisses Erstaunen in ihrem Gesichtsausdruck nicht zu übersehen war.
Ulban öffnete die für den Höchsten Priester bestimmte, jedoch lange Zeit unbewohnte Zimmerflucht. Sein Vorgänger, Saradur, hatte nach seiner Beförderung weiterhin die Räume des Ordenssprechers beibehalten, und dessen Vorgänger, Berion, hatte sich fast nie mehr als ein paar Stunden in Modonos aufgehalten.
Auf dem Tisch stand ein Becher mit klarem Mineralwasser, das noch leicht perlte.
Gedankenverloren trank der Höchste Priester einen Schluck und setzte sich dann an seinen Arbeitsplatz. Kurz darauf klopfte es an der Tür. Ulban verwarf seinen ersten Gedanken, dass die Frau mit den von ihm angeforderten Gerätschaften bereits zurückgekehrt sein könnte. Tatsächlich handelte es sich um einen Mann, welcher in der braun gestreiften Kleidung der Hilfskräfte vor der Tür stand.
„Darf ich eintreten, Eminenz?“, fragte er respektvoll. „Ich habe eine Nachricht für Sie.“
„Kommen Sie herein!“, forderte Ulban ihn auf. „Ich habe jedoch nur wenig Zeit.“
Beim Eintreten warf der Mann einen kurzen Blick auf das Glas mit dem Wasser. Der Höchste Priester bemerkte, dass sein Besucher irgendetwas kaute.
„Mein Name ist Brinngulf Sterndek“, stellte sich der Mann vor. „Ich muss Sie bitten, mich auf einer langen Reise zu begleiten.“
Der Höchste Priester sah ihn an, als zweifle er an seiner geistigen Gesundheit.
„Sie haben wohl den Verstand verloren“, herrschte er den drahtigen Mann mit dem wettergegerbten Gesicht an. „Ich habe hier wichtige Aufgaben zu erfüllen. Verschwinden Sie jetzt!“
Brinngulf Sterndek rührte sich jedoch nicht von der Stelle. „Ich bitte Sie inständig, Ihre Entscheidung nochmals in aller Ruhe zu überdenken“, insistierte er und deutete auf den Wasserbecher. „Geriadis ist das heimtückischste aller Gifte. Seine Wirkung setzt erst nach zehn Stunden ein, aber dann löst es fürchterliche Qualen aus, bevor es zum Tod führt. Wenn es einmal in den Körper gelangt ist, kann man es nie mehr beseitigen. Es gibt lediglich ein Gegenmittel, mit dem die Wirkung immer wieder um zehn Stunden hinausgeschoben werden kann. Ich besitze eine große Menge dieses Gegenmittels.“
Voller Entsetzen blickte Ulban zu dem Becher, aus dem er kurz zuvor getrunken hatte. Die Tür, die einen Spaltbreit offengeblieben war, wurde aufgeschoben. Die schwarzhaarige Frau mit der auffälligen Narbe trat ein. Sie hatte jedoch nicht die Werkzeuge bei sich, die sie besorgen sollte.
„Wir können jetzt gehen“, sagte sie.
„Er ist noch unentschlossen“, erwiderte Brinngulf Sterndek.
Langsam verstand Ulban. „Sie haben das Wasser vergiftet“, warf er der Frau anklagend vor.
„Das ist richtig“, entgegnete sie ungerührt, trat zu dem Tisch und leerte den restlichen Inhalt des Bechers in einem Zug. Dann trocknete sie ihn mit einem Zipfel ihres Gewandes aus und stellte ihn zurück.
„Ich bin immun gegen Gifte aller Art“, erklärte sie. „Ihnen rate ich dagegen dringend, das Angebot meines Bruders anzunehmen.“
Obgleich Ulban zweifelte, folgte er dem sonderbaren Geschwisterpaar. Er war nicht bereit, ein tödliches Risiko einzugehen, noch nicht.
*
Sein langer, blauer Mantel umwehte den Herold, als er mit zwei Pferden am Zügel den Besucher aus Mithrien vor dem Höhleneingang von Sylabit erwartete.
Auch Sestors schwarze Haare wurden beim Verlassen der Höhle vom Sturm erfasst und flatterten wie ein Banner um seinen Kopf. Der Wind heulte so laut, dass der Eisgraf schreien musste, um sich verständlich zu machen.
„Ich bin Sestor“, rief er. „Ich liebe die Stürme von Zogh.“
„Mein Name ist Prandorak“, tönte der Herold und hielt dem Eisgrafen die Zügel eines der beiden Pferde entgegen. „Jetzt bin ich tatsächlich dem ersten Menschen begegnet, der die Stürme von Zogh liebt.“
Trotz der widrigen Witterung lachten beide, während sie auf die Pferde aufstiegen.
„Haben Sie schon etwas in Erfahrung bringen können?“, wollte Sestor wissen.
„Nachdem ich gehört habe, worum es geht, war ich nicht untätig“, antwortete Prandorak. „Ich werde Ihnen unterwegs alles erzählen, Graf Sestor.“
„Nenne mich einfach „Sestor“!“, verlangte der Eisgraf. „Wir werden wohl längere Zeit zusammen reiten. Da sollten wir uns nicht mit Förmlichkeiten aufhalten.“
„Einverstanden“, gab der Herold bereitwillig zurück und trieb sein Pferd an. „Zuerst reiten wir zum Zyggdal-Gebirge. Dort gibt es eine Frau, die als Kind eine Replica gesehen haben will.“
Die erste Rast legten der Eisgraf und der Herold nach drei Stunden ein. Prandorak packte seinen Proviantsack aus und reichte Sestor ein großes Stück dunkel gebackenen Brotes, geräucherte Fleischstreifen und getrocknete Früchte.
„Ich habe mich so sehr nach diesem wundervollen Brot gesehnt“, schwärmte Sestor mit leuchtenden Augen. „Ich hoffe, du hast noch jede Menge davon.“
„Da kannst du beruhigt sein“, erwiderte Prandorak. „Außerdem bekommen wir es auch in den Höhlen. Wenn ich dich so höre, solltest du dir überlegen, nach Zogh umzusiedeln.“
Sestor grinste: „Es würde mir aber schwerfallen, mich zu entscheiden, wo ich hier am liebsten leben würde.“
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