Mulmok schaute sich um. Das Lager schien menschenleer zu sein. Aber es waren auch keine der gewohnten Tierlaute zu hören. Bei näherem Hinsehen stellte der Ureinwohner fest, dass einige kleine Echsen und Vögel bewegungslos am Boden lagen. Das Ganze wirkte äußerst unheimlich. Mulmok besann sich auf sein Vorhaben und beschloss, es möglichst schnell zu Ende zu bringen. Er ging zu der Hütte, die nach außen hin den besten Erhaltungszustand vermittelte. Seine Mutmaßung hatte ihn nicht getrogen. Er hatte sein Ziel erreicht.
Auf dem mit Schilfmatten ausgelegten Boden lag ein alter, weißhaariger Ureinwohner. Seine Hand umklammerte den Stab des letzten Wanderpriesters. Einige Beschädigungen der Hüttenwände unterhalb des umlaufenden Lichtdurchlasses deuteten darauf hin, dass hier ein Kampf stattgefunden hatte. Die Kratzer und Löcher stammten zweifellos von der rötlichen, immer noch ausgefahrenen Lanzenspitze des Stabes.
Ein Griff zur Halsschlagader des alten Mannes bestätigte Mulmok, dass er tot war. Die Lumburier hatten das angesehenste Mitglied ihrer lockeren Stammesgemeinschaft verloren. Diese Gemeinschaft, die trotz ihrer losen Bindung ein unvergleichlich starkes Bollwerk nach außen darstellte, war durch das Ableben des Ältesten zweifellos erheblich geschwächt. Der Weiseste der Ureinwohner verlor nun zum zweiten Mal den Besitz des mysteriösen Wanderstabes, den Korvinag getreu seinem Versprechen nach Lumburia zurückgebracht hatte. Dieses Mal war der Verlust des mächtigen Artefakts endgültig.
Mulmok öffnete vorsichtig die erkaltete Hand des alten Mannes und entnahm ihr den Stab mit der versenkbaren Klinge, die aus einem Material bestand, das von den Eingeweihten „Torr-barakt“ genannt wurde, die „gefrorene Flamme“. Behutsam bettete Mulmok die Leiche der wichtigsten Autorität seines Volkes auf dessen Liegestatt. Dann verließ er die Hütte und schloss die Tür. Der bewusstlose junge Ureinwohner würde nach seinem Erwachen den Toten finden und entsprechend den Riten seines Volkes bestatten lassen.
Als der junge Mann lange Zeit später die Augen aufschlug, hatte Mulmok mit dem Wanderstab längst den Lumbur-Strom durchquert und befand sich auf seiner Rückreise durch Surdyrien nach Rabenstein.
*
„Da kommt ein einzelner Reiter!“, meldete Wurluwux. Die Schärfe seiner Augen entsprach ihrem stechenden Blick, der ihm den Tarnnamen „Skorpion“ eingetragen hatte.
„Mit einer solchen Information kann niemand etwas anfangen“, grantelte der vierschrötige, narbengesichtige Mann mit dem auffälligen, zerbeulten Spitzhut. Er stand am Fuß der Mauer, auf deren Krone sich der „Skorpion“ postiert hatte.
„Dann komm doch selbst rauf, wenn du meinst, dass eine Blindschleiche mehr sieht als ein Adler“, schimpfte der kleine Mann mit dem braunen Wuschelkopf auf der Mauer.
Shrogotekh setzte bereits zu einer handfesten Entgegnung an, aber dann ertönten die warnenden Worte des „Skorpions“: „Das ist der alte Kerl mit dem Totenschädel und den weißen Fransen. Gib sofort Schaddoch und Rakoving Bescheid!“
Der Räuberhauptmann am Fuß der Mauer machte auf dem Absatz kehrt und spurtete zu dem eingefallenen Langhaus, in dessen Inneren sich Baron Schaddoch mit seinen Begleitern niedergelassen hatte.
„Der Berg kommt zum Propheten“, murmelte Rakoving, nachdem Shrogotekh die Nachricht überbracht hatte. „Ich werde ihm auf dem Vorplatz hinter der Torallee entgegentreten. Ihr könnt euch dort in den umliegenden Ruinen verstecken.“
Sofort hasteten die Männer los. Sie hetzten durch die staubigen Straßen und altehrwürdigen Ruinen der einstmals heiligen Stadt. Rakoving begab sich hingegen ohne Eile zu dem Vorplatz, wo der Legende nach die Oberhäupter der Sterzen mit ihren Opfergaben die Prozession der heiligen Männer empfangen hatten. Inmitten dieses Platzes erwartete Rakoving mit verschränkten Armen den einsamen Reiter, der wohl gekommen war, um ihn zu töten. Offenbar hatte er mit seiner Verwandlung das Geflecht der alten Wesenheiten nicht täuschen können. Der Meister der Todeszeremonie wusste anscheinend genau, wo sein Opfer sich aufhielt. Der knochige Klepper des Meisters schien genauso alt zu sein wie sein Reiter, der sich nur noch mit Mühe im Sattel zu halten schien. Aber Rakoving ließ sich nicht blenden. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er den Mann, an dessen Seite er geholfen hatte, Rabenstein zu verteidigen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass dies gerade eben erst geschehen war. Und nun waren aus Kampfgefährten Todfeinde geworden.
„Ich grüße Euch, Meister der Todeszeremonie“, sagte Rakoving mit seltsamer Betonung.
Auf Roxolays Gesicht trat ein Ausdruck des Erstaunens. „Wer seid Ihr, dass Ihr mich so nennt?“, fragte er.
Der ehemalige Eremit aus Borthul beschloss, das Spiel des Alten eine Weile mitzuspielen. „Mein Name ist Rakoving“, antwortete er.
„Rakoving“, wiederholte der Meister der Todeszeremonie versonnen. Und nochmals: „Rakoving.“ Plötzlich begannen seine Augen zu leuchten: „Wahrlich, Ihr seid ein phänomenaler Schauspieler. An Eurem Äußeren hätte ich Euch nie und nimmer erkannt. Aber ist dieses vordergründige Spiel mit den Buchstaben Eurer würdig? Virkagon, der Mitbegründer des Geheimen Bundes von Dunculbur, Korvinag, der alte Eremit aus Borthul, und jetzt Rakoving?“
„Der Name einer Person ist mit ihrer Seele verwoben“, entgegnete der Schauspieler. „Man kann ihn nicht aufgeben, wohl aber die Reihenfolge seiner Buchstaben verändern. Ist das wirklich zu durchsichtig? Ohne das Geflecht hättet Ihr mich nie gefunden.“
Roxolay zog fragend die weißen Augenbrauen hoch: „Wieso sollte ich Euch gesucht haben?“ Dann aber veränderte sich schlagartig sein Gesichtsausdruck. Völlig ansatzlos hielt er plötzlich eine Kristallskulptur in der Hand. Sie reflektierte die warme Abendsonne in allen Farben des Regenbogens.
Rakoving wusste um die Wirkungen dieses Gegenstandes, der auch als schreckliche Waffe benutzt werden konnte. Sobald die Statue auf dem Boden zersplitterte, würde auch Roxolays Gegner in Tausende von Stücken zerbersten.
„Nun ist die Maske gefallen“, stellte der frühere Einsiedler leidenschaftslos fest.
„Warum wollt Ihr mich töten?“, fragte Roxolay.
Der Borthuler lachte auf: „Was soll diese Komödie?“
„Sagt Euren Männern in ihren Hinterhalten, dass sie die Stiftlader weglegen sollen“, verlangte Roxolay. „Dann werde ich den Kristall wegstecken, und wir können uns darüber unterhalten, was all dies zu bedeuten hat.“
„Wenn ich das tun würde, wäre ich schutzlos“, widersprach Rakoving. „Ihr seid gekommen, um mich zu töten. Oder seid Ihr etwa nicht der Meister der Todeszeremonie?“
Roxolay schaute ihn durchdringend an. „Habt Ihr hier irgendwo einen weißen Kreis gesehen?“, fragte er. „Wir kennen doch beide die Regeln.“ Rakoving musterte genau die Umgebung und wurde plötzlich sehr nachdenklich. Dann gab er ein Handzeichen.
Schaddoch und seine Männer legten in ihren Verstecken die Stiftlader beiseite. Roxolay ließ die kleine Kristallskulptur unter seinem Gewand verschwinden und fragte den ehemaligen Kampfgefährten: „Wovor fürchtet sich der gefährlichste Mann der Welt, den jemand einmal den „Kettenhund des Geflechts“ genannt hat?“
„Vor dem anderen Kettenhund des Geflechts“, erwiderte Rakoving und deutete auf den Meister der Todeszeremonie. Dann fügte er etwas leiser hinzu: „Und vor dem Geflecht selbst.“
Roxolay sah ihn erschrocken an. Dann schwang er sich von seinem Pferd und ging ein paar Schritte auf Rakoving zu: „Was ist geschehen, alter Freund?“
„Habt Ihr nicht den Aufschrei des Geflechts gehört?“ fragte der Borthuler erstaunt. Unfähig zu einer Antwort schaute Roxolay nur fassungslos drein.
„Dann schwebt Ihr in der gleichen Gefahr wie ich“, stellte Rakoving nüchtern fest. „Aber sagt – warum seid Ihr hier, wenn nicht um mich zu töten?“
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