Sammy sah sich bereits mit Dösig und Wischnewski speisen, die Katzendame aus dem Sekretariat im Arm, sanften Jazz im Hintergrund. Er würde sich ein eigenes Haus bauen können, höher im Wald, ohne Biber, vielleicht mit Maxi. So träumte er, als Professor Dösig das Werkstück eine Spur fester als ursprünglich geplant auf den Boden zurückstellte und ein lautes Knacken ertönte. Unter dem stillen Entsetzen aller Anwesenden brach der Kratzbaum zusammen! Er spaltete sich genau in der Mitte.
«Oh nein!!!»
Sammy schlug seine Pfoten vor das Gesicht.
Der Professor beugte sich zu den Trümmern und schob seine Brille auf die bepelzte Stirn: «Kennen Sie jemanden, der gern nagt? Ich sehe eindeutige Bissspuren an der Bruchstelle.»
Wie in Trance hörte der Kater die Stimme des Dozenten. Sammy sprang auf. «Das darf doch nicht wahr sein! Nein, nein, nein!»
Er drehte sich um, rannte zur Tür und verließ den Raum, die Prüfungskommission verdutzt zurücklassend.
Völlig außer sich rannte er über den Campus zum Wohnheim, verschaffte sich Einlass in die WG, erblickte den Übeltäter, griff ihn fest am Oberkörper ins Fell und hob das viel größere und nicht wenig überraschte Tier in die Höhe.
«Warum machst das? Wieso zerstörst du meinen Kratzbaum? Und mein Leben???»
Er schluchzte.
Der Biber behielt auch in der Luft schwebend die Contenance. Zumindest schien er nicht zu erkennen, was er falsch gemacht haben sollte. Statt sich zu entschuldigen, erhob er die Stimme und sang, wie es auch nach tierischem Ermessen kaum dissonanter hätte klingen können.
«Nagen ist unser Leben,
denn König Nagen regiert die Welt.
Wir nagen und geben alles,
bis dann ein Baum nach dem anderen fällt.»
Dem Kater fehlten die Worte. Da machte der sich auch noch über sein Unglück lustig! Dieser verdammte Zyniker! Leider hatte der Biber sein musikalisches Repertoire noch nicht ausgeschöpft.
«Klingelingeling, Klingelingeling,
hier kommt der Brögelmann.
Klingelingeling, Klingelingeling,
ich nag die Möbel an.
Klingelingeling, Klingelingeling,
bald kommt dein Kratzbaum dran.»
«Er war schon dran, du Mistkerl!»
Sammy kochte vor Wut. Er schüttelte den Biber ein letztes Mal, warf ihn mit Wucht gegen die Wand, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand.
«Wer nicht hüpft, der ist ein Kater», waren die letzten Worte, die an sein Ohr drangen.
Weg hier! Nur noch weg!
Weg, weg, weg!
Sammy rannte vom Unigelände und weiter durch den Wald.
Die Tränen rannen ihm in für Katzen völlig unüblicher Weise über das Gesicht. Ziellos stolperte er durch das Gehölz. Er nahm nichts mehr um sich herum wahr. Nicht, wo er sich befand. Nicht, wo er hinlief. Nach Stunden des Umherirrens hielt der Kater erschöpft an und horchte. Motorengeräusche. Licht. Was mochte hier sein? Und wo war er eigentlich?
3
Jagdinstinkt
Sammy schaute sich um. Der Wald endete hier. Er hielt kurz inne und nahm in Gedanken Abschied von der «Südwestfälischen Fachhochschule für Pelz- und Nagetiere Hagen-Haspe». Es war alles in allem eine schöne, ihn persönlich bereichernde Zeit gewesen. Besonders das dortige Konzept hatte ihn überzeugt. Man orientierte sich hier eher an den Bewohnern des Waldes als an den Menschen, was leider ansonsten viel zu oft der Fall war. Tiere waren besser einschätzbar und hatten im Normalfall grundsätzlich dieselben Hintergedanken. Die waren bekannt, und man ging damit um oder ihnen aus dem Weg. Meistens drehte sich sowieso alles um das Thema Fressen. Wer wen fraß und so. «Entscheidend ist im Napf», lautete die Devise. Derart einfache Denkstrukturen machten sie problemlos berechenbar. So traf man auf Hochschulfestivitäten hauptsächlich Füchse, Rehe und Hasen oder ab und zu mal ein Wildschwein. Leider waren Letztere weniger zahlreich vertreten. Sie entstammten oft extrem bildungsfernen Schichten und hatten wenig Ambitionen, diesen Zustand zu ändern. Sehr zum Leidwesen von Tieren wie Professor Doktor Doktor Doktor Dösig, die auch deren Ressourcen, die im nicht rein überlebenspraktischen Bereich lagen, gern entwickelt, genutzt und ergänzt hätten. In dieser Hinsicht erkannte er jede Menge brachliegendes, für die faunistische Gesellschaft relevantes Potenzial. Die auf dem Campus wohnenden Tiere lebten überwiegend friedlich zusammen. Hier herrschte ein Ehrenkodex, der naturbedingte Rivalitäten auszuleben verbot, selbst wenn das Gegenüber in freier Wildbahn Teil der eigenen Nahrungskette gewesen wäre. Sammy hatte sogar den einen oder anderen Abend mit ein paar Feldmäusen verbracht und sich dabei trotz des hohen Maßes an aufzubringender Disziplin durchaus amüsiert. Wenn man Tiere als Lebewesen sah und nicht zur reinen Nahrung degradierte, konnte man schon mal Überraschungen erleben. Die Rückmeldungen der geschonten Tiere gestalteten sich auch deutlich positiver aus als allgemein üblich. Das war ja auch mal ganz nett. Da fielen selbst die gelegentlichen Eskapaden auf Krawall gebürsteter Bewohner aus dem Stinktiermilieu oder rein zufällig auf dem Campus gelandeter Wildschweine kaum ins Gewicht. Jedes Klischee bestätigte sich nun mal hin und wieder. Davon abgesehen, bildete der Campus der Faunistischen Hochschule eine fast utopisch anmutende Oase des Friedens im Hasper Wald.
Sammy schaute an seinem Körper herunter. Erst jetzt bemerkte er, dass der feine Prüfungszweiteiler, dessen Erwerb ihn kürzlich noch fast ruiniert hatte, in Fetzen an ihm herunterhing. Der Zylinder war ganz verschollen, die Erinnerung verflogen. Er musste stundenlang durch das dichte Geäst geirrt sein. Nur wenige Bäume trennten ihn noch von den ersten Häusern, dahinter folgte eine auch zu dieser vorgerückten Stunde stark befahrene Straße. Das also war Haspe-Zentrum! Das Haspe der menschlichen Bewohner. Er hatte viel von ihnen gehört, auch davon, dass den allermeisten die Existenz der Tierfakultät gar nicht bekannt war. Eine andere Welt.
Der Kater schlich bergabwärts an den menschlichen Behausungen vorbei in Richtung der Motorengeräusche. Bald erreichte er die Lärmquelle. Er blieb auf dem Fußweg, während sich die Autos auf der Fahrbahn stauten. Nicht völlig ungewohnt für ihn, war er doch ursprünglich ein Hannover’scher Stadtkater gewesen. In der dortigen Südstadt hatte es viele solcher Orte gegeben. Damals, in seinem vorletzten Leben, das genauso abgeschlossen war wie von nun an seine Studentenexistenz.
Sammy lief ziellos durch die Innenstadt, ließ sich einfach treiben. Für die Menschen hier war er mit Sicherheit lediglich ein ganz gewöhnlicher streunender Kater, auf keinen Fall aber eine ehemals potenzielle Koryphäe in der Disziplin Kratzbaumtechnik. Hier kannte ihn niemand. Dementsprechend wurde er auch behandelt. Hin und wieder gelang es ihm, alten Thunfisch (ohne Sauce und Dilltopping an sich ein Frevel) oder Ähnliches aus einer geöffneten Mülltonne zu angeln. Satt wurde er so natürlich nicht, und als Gourmet wäre er auf der Straße auch verloren gewesen. Es vergingen qualvolle, vom Aufblitzen schamhafter Gedanken überschattete Tage. Sammy schlief am Straßenrand oder unter Büschen im Park. Einige Male kam er anderen Tieren ins Gehege, weil er deren Revier betreten hatte oder wegen ähnlich profanen Schwachsinns, als welchen er diese Streitigkeiten schon immer empfunden hatte und seit seiner Zeit hier auf dem Campus noch weniger verstehen konnte. Die Erde gehörte ihnen allen und nicht nur einem Lebewesen ein paar Quadratmeter Fläche! Wie oberflächlich und engstirnig das doch gedacht war. Diese Tiere hatten überhaupt keinen Blick für die Schönheit und Größe des Universums, sie dachten ja kaum bis zum eigenen Tellerrand! Er versuchte mit Einzelnen zu sprechen, einer Bisamratte am Ufer der Ennepe oder einem Straßenkater im Park. Sie verstanden gar nicht, was er meinte, ließen ihn noch nicht einmal ausreden und prügelten einfach drauflos. Blamabel und schmerzhaft – auch körperlich! Daran und an seinem spätestens an der Hochschule ganz automatisch entwickelten Habitus zeigte sich seine Andersartigkeit, während er sich rein äußerlich schnell in Richtung Verwahrlosung anpasste. Auch eine Art von Integration! «Das Leben ist ein Jammertal, und hier ist die Zentrale!», hatte sein Vater oft gesagt. Das traf seine derzeitige Situation am besten.
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