Séverin steckte das Messer in eine Innentasche seines Sakkos. Sie war mit Stahl ausgekleidet, damit er sich nicht aus Versehen verletzte. Bevor er ausstieg, schloss er die Augen und rief sich das Bild von Roux-Joubert in den Katakomben ins Gedächtnis. Ihm tropfte Ichor von den Lippen, das goldene Blut der Götter. Und Séverin spürte abermals, wie die schwarzen Federn aus seinem Rücken sprossen, die Flügel sich an seine Schultern schmiegten, wie ihm Hörner wuchsen. Und er spürte diesen unverkennbaren Rausch der Unbesiegbarkeit. Der Göttlichkeit . Ob gut oder schlecht, kümmerte ihn nicht. Er wollte mehr davon.
Im Inneren des Mariinskij-Theaters stolzierte die ruhmreiche Elite Sankt Petersburgs auf und ab und vertrieb sich die Zeit vor Beginn der Aufführung. Am Eingang drehte sich eine geschmiedete Eisskulptur langsam um sich selbst. Sie sah aus wie Snegurotschka, das Schneemädchen aus den russischen Märchen. Das Kleid mit den Eissternen und Kristallperlen funkelte im Licht und erzeugte Frostmuster auf dem roten Teppichboden. Frauen trugen Kokoschniks mit Goldapplikationen und Schwanenfedern und kicherten hinter vorgehaltenen blassen Händen. Ambradüfte vermischten sich mit Tabakrauch und Salz, gelegentlich versetzt mit einem metallischen Hauch von Schnee. Zwei Frauen in Pelzen aus Hermelin und Zobel gingen an ihm vorüber. Er schnappte Fetzen ihres Geschwätzes auf.
»Ist das der Hotelier aus Paris?«, wisperte die eine. »Wo er wohl sitzen wird?«
»Starr ihn nicht so an, Jekaterina«, ereiferte sich die andere. »Gerüchten zufolge wärmt ihm heute Nacht irgend so eine Cabaret-Diva oder Kurtisane das Bett.«
»Ich für meinen Teil sehe niemanden an seiner Seite«, gab die Erste hochnäsig zurück.
Séverin beachtete sie nicht weiter und wandte den Blick stattdessen zur Eingangstür aus Elfenbein und Gold. Träge schlichen die Sekunden dahin. Séverin drehte an dem diamantenen Siegelring, der an seinem kleinen Finger steckte. Laila würde es ihm übel nehmen, dass er sie so herbeizitierte, aber sie ließ ihm keine Wahl. Sie hatten sich bereits vor fünfzehn Minuten hier treffen wollen. Séverin sah sich im Foyer um. Ein Kellner in einem glänzenden silbernen Sakko trug auf einem Tablett einige aus Eis geformte, verzierte Gläser mit Schwarzpfefferwodka, daneben Porzellantellerchen mit Zakuski : Essiggurken und glasig schimmernder Fischrogen, Fleischhäppchen in Aspik und dicke Scheiben Roggenbrot.
Ein Mann mit einem Hermelinkragen fing seinen Blick auf und sah ebenfalls zum Eingang. Er schenkte ihm ein wissendes Lächeln, nahm zwei Gläser vom Tablett und reichte Séverin eins davon.
»Za ljubow!«, sagte er beschwingt und kippte den Wodka herunter. Dann senkte er die Stimme. »Das bedeutet ›Auf die Liebe‹, mein Freund.« Er zwinkerte und schaute wieder zur Tür. »Auf dass sie bald erscheinen möge.«
Séverin leerte das Getränk in einem Zug. Es brannte sich einen Weg durch seine Kehle. »Oder lieber darauf, dass sie niemals wieder erscheinen möge.«
Verwirrt sah der Mann ihn an, doch ehe er etwas erwidern konnte, verkündete ein Ansager oberhalb der gewundenen goldenen Treppe: »Meine Damen und Herren, darf ich Sie bitten, Ihre Plätze einzunehmen!«
Die Menschenmenge setzte sich in Bewegung und Séverin schlenderte langsam hinterdrein. Laila war noch immer nicht da. Offensichtlich trieb sie ihn aber selbst in ihrer Abwesenheit in den Wahnsinn. Er meinte, sie aus dem kehligen Gelächter anderer Frauen herauszuhören, wähnte sie hinter einem Fächer, den sie niemals bei sich tragen würde. Er dachte, sie durch das verschwommene Gold eines schwebenden Kandelabers dabei ertappt zu haben, wie sie mit der bronzefarbenen Hand über jemandes Sakko strich. Nur handelte es sich kein einziges Mal um sie.
Im Zuschauerraum glitten goldene Champagnerlüster über die Köpfe der Gäste hinweg, die mit einer flinken Handbewegung volle Gläser auf sich zuschweben ließen. Ein Schmiedekünstler hatte die Stickereien auf den roten Seidenvorhängen über der Bühne so bearbeitet, dass die Fäden sich immer neu zu schwimmenden Kois verwoben. In Séverin regte sich ein Drang, den er noch aus seiner Kindheit kannte. Er wollte das Publikum beobachten, dessen Blicken folgen. Das Staunen darin sehen. Doch er unterdrückte den Impuls.
Séverin schaute zu der leeren Loge nebenan. Der Kunsthändler Michail Wassiljew musste jeden Moment auftauchen. Ungeduldig tippte er mit dem Fuß auf den Boden und stieß kurz darauf einen leisen Fluch aus. Etwas von dem Magnetresistenzpuder, mit dem Zofia ihre Schuhe überzogen hatte, hinterließ eine feine Staubspur auf dem Holzboden. Er sah hinunter auf den diamantenen Siegelring an seiner Hand, der mit Lailas Kette verbunden war, und runzelte die Stirn. Entweder funktionierte er nicht, oder sie hatte sich entschieden, ihn einfach zu ignorieren.
Als er hörte, wie eine Tür aufging, setzte Séverin sich aufrechter hin. Er rechnete fest damit, dass es Laila war. Das Geräusch war jedoch nicht aus ihrer Loge gekommen, sondern aus der von Wassiljew. Zwei bewaffnete Männer tauchten nebenan auf. Ihre Ärmelaufschläge waren hochgekrempelt. Darunter leuchtete im Licht der Gaslampen scharlachrot das Blutschmiedetattoo, das ihnen Zutritt zu Wassiljews Privatsalon in der unteren Etage gewährte. Ein kleines Symbol, ein Apfel, blitzte auf, doch da wandten sich die Wachen auch schon wieder ab und sahen sich prüfend um.
»Warum sitzt er heute nicht in der üblichen Loge?«, murmelte der eine.
»Seine wird gerade instand gesetzt«, sagte der Zweite. »Sie haben sogar den Salon unten restauriert. Mussten irgendwelche Metallpfosten in den Ecken anbringen oder so ähnlich.«
Der andere Wachmann nickte. Dann schnaubte er verächtlich und scharrte mit einem Schuh über den Boden. »Machen die hier gar nicht mehr sauber? Sieh dir mal den ganzen Baustaub an. Igitt.«
»Das alles wird Wassiljew gar nicht gefallen. Er ist heute Abend eh ziemlich nervös.«
»Nun ja, theoretisch hat er auch allen Grund dazu. Schließlich wurde der Löwe aus Veritgestein am Eingang gestohlen. Er weiß nur noch nichts davon, also kein Sterbenswörtchen zu ihm.« Der Mann schüttelte sich. »Er ist momentan so schon kaum zu ertragen.«
Séverin lächelte in sein Glas.
Einer der Wachmänner griff nach der Flasche Champagner, die in einem Eiskübel vor sich hin schwitzte.
»Wenigstens hat das Mariinskij-Theater an eine prickelnde Entschädigung gedacht.«
Der Zweite grunzte.
Dann gingen die beiden hinaus, zweifellos um Wassiljew zu versichern, dass alles im Lot war. Derweil verwandelte sich der gestickte Koi auf dem Vorhang in eine kunstvolle 5 .
Noch fünf Minuten, bis die Vorstellung begann.
Wieder öffnete sich Wassiljews Tür. Séverin krallte die Finger in die Armlehnen. Erst als sie ins Schloss fiel, wurde ihm klar, dass es dieses Mal nicht die Loge des Kunsthändlers gewesen war, sondern seine. Plötzlich schwängerte der Duft von Rosenwasser und Zucker die Luft.
»Du bist spät dran«, sagte er.
»Verzeih mir, Séverin, dass du so lange in sehnsüchtiger Erwartung ausharren musstest«, erwiderte Laila gelassen.
Früher hätte sie ihn Majnun genannt, doch das schien eine Ewigkeit zurückzuliegen.
Er betrachtete sie. Heute Abend trug sie ein prachtvolles goldenes Abendkleid. Unzählige verlockende Schleifen zierten ihre Taille. Ihr Haar war hochgesteckt und in ihren Locken prangte ein Kopfschmuck mit goldenen Federn, der aussah wie eine kleine Sonne. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht weiter hinab zu ihrem Hals. Er war nackt.
»Wo ist deine Kette?«
Sie schnalzte mit der Zunge. »Tss, Diamanten zu einem glänzenden Kleid wären ein bisschen zu viel des Guten. Unsere Abmachung gibt dir vielleicht das Recht, zu bestimmen, wer mein Bett teilt, aber was ich anziehe, bestimme immer noch ich. Abgesehen davon treten wir heute zum ersten Mal zusammen in der Öffentlichkeit auf. Eine protzige Diamantkette schreit doch geradezu, dass ich nach deiner Pfeife tanze, weil ich dafür bezahlt werde. Dabei ist es nun wirklich kein Geheimnis, dass eine Frau wie ich außerhalb des Cabarets nur an der Seite eines wohlhabenden Mannes existieren kann. Dein Halsband wäre für heute Abend reichlich übertrieben.«
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