Bis zu diesem Moment hatte Laila die Kassette aus Samt nicht bemerkt, die er bei sich trug. Eine Schmuckschatulle. Er öffnete sie und eine kurze Halskette aus funkelnden Diamanten kam zum Vorschein. Sie waren geschliffen wie Eiszapfen. Allein wenn sie daran dachte, dass sie ihre Haut berühren würden, fing sie an zu zittern.
»Sie sind echt«, sagte er und hielt sie ihr hin.
Laila strich über einen der Edelsteine. Er entzog sich ihren Gedanken. So etwas geschah nur bei geschmiedeten Gegenständen. Séverins Schatten senkte sich über sie.
»Wenn ich dich brauche, wird die Diamantkette warm und legt sich ein ganz klein wenig enger um deinen Hals«, sagte er. »Dann wirst du zu mir kommen und mir Bericht über etwaige Neuigkeiten erstatten. Im Gegenzug werde ich dich über jeden Fortschritt, den wir bei der Suche nach der Göttlichen Lyrik machen, informieren.«
Laila wich zurück.
»Du willst mir ein Halsband anlegen?«
Séverin hob seine Hand. Dort glänzte das Schwur-Tattoo, das ihre eigenen Armreife hinterlassen hatten.
»Ich wollte mich dafür revanchieren. Wir betrachten uns doch als ebenbürtig, oder etwa nicht? Das haben wir einander versprochen.«
Seine Worte waren ein verfälschtes Echo ihrer ersten Begegnung. Sie war sprachlos vor Wut. Séverin trat näher.
»Vergessen wir nicht, dass du diejenige warst, die mich aufgesucht und verlangt hat, meine Mätresse zu sein und mein Bett zu teilen.«
Die geschmiedeten Diamanten schienen wissend zu funkeln, als fragten sie sie höhnisch: Was hast du erwartet?
Er nahm die Kette heraus und ließ sie durch seine Finger gleiten. »Ich gehe davon aus, du hast keine Einwände?«
Eis kroch durch ihre Adern. Einwände? Nein. Sie wollte leben. Ihr Dasein genießen. Und so verspürte sie angesichts dieses Fremden, der dort vor ihr stand, nur Fassungslosigkeit. Je länger sie ihn ansah, desto mehr glich er einem Stück finsterer Nacht, an die sich ihre Augen nur allmählich gewöhnten.
»Nicht im Geringsten«, sagte sie und schnappte ihm das Collier aus der Hand. Dabei ließ sie kaum noch Platz zwischen ihnen und bemerkte mit Genugtuung, wie er zurückzuckte. »Doch an Ihrer Stelle wäre ich vorsichtig, Monsieur. Ob Frauchen mit Diamantkette oder Hündchen mit Diamanthalsband – bissig können sie beide sein!«
Enrique 
Sankt Petersburg, Russland
Enrique zurrte seinen Schal fester um den Hals, als könnte er so den russischen Winter fernhalten. Bei jedem Schritt wirbelten Schneeflocken auf und landeten wie kalte Küsse in seinem Nacken.
Sankt Petersburg war eine Stadt in der Schwebe zwischen althergebrachter und moderner Magie. Elektrische Straßenlaternen warfen Kreise goldenen Lichts, Brücken spannten sich wie Engelsflügel. Doch die Schatten wirkten zu scharf, und die Winterluft roch metallisch, wie nach getrocknetem Blut.
Neben Enrique und Zofia glänzte die Newa wie schwarzes Glas. Die Lichter aus den palastartigen Häusern am Englischen Kai – einer der prachtvollsten Straßen der Stadt – hatten ihre Fenster verlassen und sich ins schimmernde Nass gestürzt. Ungestört vom Wind sahen die Spiegelungen auf der Oberfläche aus, als hätte man ein zweites Sankt Petersburg in den Fluss gegossen.
Manchmal glaubte Enrique daran – an andere Welten, erschaffen aus den Wahlmöglichkeiten, die er verworfen, den Wegen, die er nicht eingeschlagen hatte. Er starrte ins Wasser, auf das leicht verschwommene Bild des alternativen Sankt Petersburg. In dieser Parallelwelt war Tristan vielleicht noch am Leben. Vielleicht tranken sie dort Kakao und bastelten eine geschmacklose Krone aus Lametta für Séverin, während sie einen Plan ausheckten, wie sie ein Fass des Champagners für die alljährliche Silvesterfeier im L’Éden für sich abzweigen könnten. Vielleicht hätte Laila das Backen nicht aufgegeben und das Hotel röche noch immer nach süßen Köstlichkeiten und er würde sich mit Zofia um den Kuchen zanken. Vielleicht hätte Séverin dort sein rechtmäßiges Erbe nicht ausgeschlagen und vielleicht war der andere Enrique nicht nur ein Mitglied der Ilustrados, sondern Dreh- und Angelpunkt der Pariser Gesellschaft, umgeben von einer Schar staunender Bewunderer, die an seinen Lippen hingen.
Vielleicht.
Ganz in der Nähe kündigte das schwere Geläut der Sankt Petersburger Uhren die achte Abendstunde an. Enrique lauschte. Und da war es, weit in der Ferne, das silberhelle Läuten der Hochzeitsglocken. In zwei Stunden würde das in der Kasaner Kathedrale frisch vermählte Paar in einer Prozession aus winterlich geschmückten Kutschen diese Straße entlangkommen. Was bedeutete: Noch lagen sie im Zeitplan. Sie wurden erst um Viertel nach acht im Haus des Kunsthändlers an der Uferpromenade erwartet. Doch sie hatten noch ein gutes Stück Weg vor sich. Beim zweiten Glockenläuten erschauderte Enrique. In nur einer Stunde würden Séverin und Laila im Mariinskij-Theater ihre Falle für den Kunsthändler zuschnappen lassen, um an die Tezcat-Linse zu kommen. Gott höchstpersönlich hätte Enrique auf der Stelle ewiges Seelenheil versprechen können – nie und nimmer hätte er dort zwischen den beiden sitzen wollen. Leicht besorgt, weil dieser Gedanke vermutlich an Blasphemie grenzte, bekreuzigte er sich schnell.
Neben ihm hatte Zofia sich seinem Schritt angepasst.
Für diese Mission hatte sie sich als junger Mann verkleidet. Ihr flammenhelles Haar hatte sie unter einen großen Hut gestopft, die zierliche Figur wurde durch einen gepolsterten Mantel und ihre geringe Größe durch geschickt konstruierte Schuhe kaschiert. Ihr eigenes Werk, versteht sich. Aus der Manteltasche lugte ein falscher Bart. Zofia hatte erklärt, er sei viel zu kratzig, um länger getragen zu werden als unbedingt notwendig. Sie zitterte nicht. Wenn überhaupt, so schien sie in der Kälte aufzublühen, als wäre sie in ihrem natürlichen Element.
»Weshalb siehst du mich so an?«, fragte sie.
»Es gefällt mir, dich anzusehen.« Entsetzt darüber, wie sich das anhörte, fügte er hastig hinzu: »Ich meine, deine Maskerade ist beinahe überzeugend. Das weiß ich aus rein ästhetischen Gründen zu schätzen.«
»Beinahe überzeugend«, wiederholte Zofia. »Was stimmt denn nicht?«
Enrique deutete auf seinen Mund. Ihre Stimme verriet sie.
Zofias Miene verdunkelte sich. »Ich wusste es. Das muss eine genetische Veranlagung mütterlicherseits sein.« Sie zog einen Schmollmund. »Ich dachte, die Kälte würde helfen, aber meine Lippen wirken immer etwas zu rot.«
Enrique klappte die Kinnlade herunter.
»Das war es doch, was du meintest, oder?«, fragte Zofia.
»Äh … ja. Genau.«
Nun, da sie ihre Lippen erwähnt hatte, musste er sie natürlich anschauen. Sie waren in der Tat sehr rosig. Einem Winterapfel gleich. Wie sie wohl schmeckten? Plötzlich ging ihm auf, was er da gerade dachte, und er schüttelte sich. Zofia brachte ihn durcheinander. Dieses Gefühl hatte sich schleichend eingestellt und überfiel ihn zu den unmöglichsten Zeiten. Enrique zwang seine Gedanken in andere Bahnen. Zu Hypnos. Hypnos verstand ihn. In Enrique kämpften zwei Seiten um die Vorherrschaft, und er war nie sicher, welche die Oberhand gewinnen würde, die spanische oder die philippinische. Hypnos wusste aus Erfahrung, wie es war, mit einer zwiegespaltenen Seele zu leben, als Sohn eines Kolonisators und einer Kolonisierten. Bislang war ihr Verhältnis zwanglos, was Enrique schon ganz gut gefiel, doch auf lange Sicht wollte er mehr. Er wollte jemanden, der immer zuerst nach ihm Ausschau hielt, wenn er einen Raum betrat. Jemanden, der ihn ansah, als lägen die Geheimnisse dieser Erde in seinem Antlitz verborgen, der ihn gut genug kannte, um seine Sätze zu beenden. Jemanden, mit dem er Kuchen teilen konnte.
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