1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 »Was für ein Schwachsinn«, spottete Hypnos und schlug wieder und wieder dieselbe Taste auf dem Klavier an. »Die Fähigkeit, ein Buch zu lesen, soll auf eine Blutlinie zurückzuführen sein? So funktioniert Schmiedekunst nicht. Die Gabe wird nicht vererbt. Sonst würde ich eine für die Geistschmiedekunst besitzen.«
»Mythen sollte man nicht rundheraus abtun«, widersprach Enrique leise. »Die meisten Mythen sind nur mit Spinnweben verklebte Wahrheiten.«
Hypnos’ Gesichtszüge wurden weicher. »Oh, aber natürlich, mon cher . Nichts läge mir ferner, als dein Handwerk zu verhöhnen.«
Er warf ihm eine Kusshand zu und Enrique … errötete. Séverin runzelte die Stirn und sah zwischen den beiden hin und her. Hypnos fing seinen Blick auf und grinste schief.
Offenbar hatte er etwas verpasst.
Rasch lenkte Séverin seine Aufmerksamkeit wieder auf Enrique, der eine vergilbte Karte entrollte. Sie zeigte den südlichen Zipfel des indischen Subkontinents. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Laila sich beinahe wehmütig vorbeugte. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus.
»Zuletzt befand sich Die Göttliche Lyrik in Pondicherry, Indien«, sagte Enrique. »Laut den Dokumenten des Babelordens schickte man damals jemanden aus dem Orden los, um das Buch zu holen, doch als der Bote dort ankam, hatte bereits jemand das Artefakt im Namen des Ordens an sich genommen …«
»… woraufhin der Diebstahl für knapp zwanzig Jahre unter den Teppich gekehrt wurde und man behauptete, es wäre verschwunden«, fügte Hypnos hinzu.
Enrique nickte. »Dank Roux-Joubert wissen wir aber, dass wir Die Göttliche Lyrik am ehesten im Schlafenden Palast finden … und genau dort endet unsere Spur.« Er sah zu Séverin. »Es sei denn, du konntest tatsächlich in Erfahrung bringen, wie wir zum Palast gelangen.«
Früher war dieser Moment immer der beste gewesen – der Moment, in dem er etwas Neues enthüllte und dabei zusah, wie sich die Überraschung auf ihren Gesichtern abzeichnete. Er hatte mit Vorliebe geheimnisvolle Andeutungen auf ihre nächste Akquisition gemacht. Zum Beispiel hatte er Laila einmal eine über und über mit goldenen Rosen verzierte Torte backen lassen, weil sie kurz darauf in Griechenland nach der Hand des Midas gesucht hatten. Diesmal konnte er ihnen nicht einmal in die Augen sehen.
»Ja«, sagte er daher nur und blieb in der Tür stehen. »Die Koordinaten des Schlafenden Palasts werden nur von einer Tezcat-Brille offenbart, und wo die sich befindet, weiß ich.«
Zofia beugte sich interessiert vor. »Eine Brille?«
Da zerschnitt Lailas Stimme die Luft. »Und woher stammt dieses Wissen?«, fragte sie kühl.
Sie sah ihn nicht an, er sah sie nicht an.
»Von einem Informanten«, gab Séverin ebenso kühl zurück. »Noch dazu hat er mir eröffnet, dass sich der Schlafende Palast irgendwo in Sibirien befindet.«
»Sibirien?«, wiederholte Hypnos. »Dort … da soll es vor Geistern nur so wimmeln.« Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, als erwartete er, dass ihm sofort jemand beipflichtete. Die anderen starrten ihn jedoch nur mit ausdruckslosen Gesichtern an.
Er setzte nach: »Nun ja, das war noch vor meiner Zeit als Patriarch … Mein Vater erzählte mir, vor Jahren sei dort etwas Eigenartiges vorgefallen. Am Baikalsee soll man schreckliche Laute vernommen haben, geradeso als würden sich einige Mädchen die Seele aus dem Leib schreien. Das nahm derartige Ausmaße an und versetzte die dortigen Einwohner so sehr in Aufruhr, dass die russische Fraktion, Haus Dažbog, den Orden gebeten hat, sich der Sache anzunehmen. Mein Vater sandte daraufhin eine kleine Gruppe von Geistschmiedekünstlern aus. Er wollte herausfinden, ob irgendjemand unter fremdem Einfluss stand. Aber niemand konnte je irgendetwas feststellen.«
»Und dann hörte es einfach auf?«, fragte Laila.
Hypnos nickte. »Letzten Endes ja. Die Ortsansässigen waren überzeugt, dass dort Mädchen ermordet worden seien, aber man fand nie auch nur eine Leiche.« Mit dünner Stimme fügte er hinzu: »Ich hoffe sehr, der Schlafende Palast befindet sich nicht in Sibirien.«
Enrique setzte eine zerknirschte Miene auf. »Ich denke, schon allein der Name bestätigt es uns. Es ist nicht eindeutig geklärt, welchen Ursprung das Wort ›Sibirien‹ hat, aber es klingt verdächtig ähnlich wie das tatarische Wort sib ir für schlafendes Land. Daher auch der Schlafende Palast . Ich kann mich aber auch irren«, sagte er hastig, als er den panischen Ausdruck auf Hypnos’ Gesicht sah. »Wo finden wir diese Brille denn überhaupt? In einer Bank? Einem Museum?«
»Auf einem privaten Anwesen«, sagte Séverin.
Er stupste den Mnemospion an seinem Kragen an. Der Schmiedekunstkäfer erwachte mit einem Zittern zum Leben, surrte mit den juwelenfarbenen Flügeln und klickte mit den Zangen. Er riss den Mund auf und projizierte ein Bild an das Bücherregal, auf dem ein stattlicher Herrensitz an der Newa zu sehen war. Der Straßenname stand am Rand: Anglijskaja Nabereschnaja. Der Englische Kai in Sankt Petersburg in Russland.
»Das nenn ich mal ein … großes Haus«, sagte Enrique.
»Und es liegt in Russland?«, fragte Zofia und kniff die Augen zusammen.
Séverin wechselte zu einer weiteren Außenaufnahme des Anwesens. »Die Tezcat-Brille befindet sich in der privaten Sammlung eines Kunsthändlers, in einem Raum, den man den Göttinnensaal nennt. Allerdings konnte ich keine Informationen …«
Enrique schrie auf. »Von dieser Installation habe ich gehört! Sie ist Hunderte von Jahren alt, und niemand weiß, von welchem Bildhauer sie stammt. Falls sie überhaupt der Bildhauerei zuzuordnen ist. Aber das ist meine Vermutung. Ich wollte sie immer schon mal sehen!« Er strahlte sie alle an und seufzte. »Was sich wohl alles im Göttinnensaal befindet?«
Zofia hob eine Augenbraue. »Göttinnen?«
»Das ist doch nur der Name dieses Meisterwerks«, sagte Enrique missbilligend.
»Der Name lügt also?«
»Nein, der Name soll nur das Wesen der Kunst einfangen, möglicherweise verbirgt sich darin aber etwas ganz anderes.«
Zofia runzelte die Stirn. »Manchmal verstehe ich Kunst einfach nicht.«
Hypnos hob sein Glas. »Hört, hört.«
»Wir müssen also nur in diesen Saal, die Tezcat-Brille finden und wieder raus«, fasste Zofia zusammen.
»Nicht ganz«, erwiderte Séverin. »Die Tezcat-Brille ist ein Gestell mit Ornamenten, aber einen entscheidenden Teil – nämlich eine Linse – trägt der Kunsthändler um den Hals.« Er hielt kurz inne und schaute auf seine Notizen: »Ein gewisser Monsieur Michail Wassiljew.«
»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor …«, sagte Hypnos und rieb sich das Kinn. »Und ihm gehört auch der Göttinnensaal?«
Séverin nickte.
»Aber warum sollte das Gefallene Haus ihm den Schlüssel zu seinem altehrwürdigen Palast und dem Schatz überlassen?«, fragte Hypnos. »Was hat er mit der ganzen Sache zu tun?«
»Und warum sollte er ihn um den Hals tragen?«
»Angeblich hat er keine Ahnung, worum es sich dabei handelt«, antwortete Séverin. »Meinem Informanten zufolge ist die Linse als persönliches Andenken getarnt. Es sieht aus wie der Schlüssel zum einstigen Schlafgemach seiner Geliebten.«
Laila starrte auf ihren Schoß und fummelte an einer Troddel ihres Kleides herum. Dieser blutrote Farbton machte ihn wütend. Er konnte den Anblick nicht ertragen.
»Aber warum ausgerechnet er?« Enrique ließ nicht locker.
»Er ist einflussreich genug, um bestimmte Sicherheitsmaßnahmen für seinen Besitz zu ergreifen, aber nicht bedeutend genug, um viel Aufsehen zu erregen«, erwiderte Séverin. »Ihn verbindet nichts mit dem Orden, sodass man ihn auch nicht verhören würde. Der größte Skandal in seiner Vergangenheit war die Affäre mit einer Primaballerina, die in die Brüche gegangen ist. Er hat sie geschwängert, sich aber geweigert, sie zu heiraten. Das Kind starb bei der Geburt, woraufhin sie sich umgebracht hat.«
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