Séverin 
Séverin wusste, dass man sich aller Merkmale, die einen Menschen ausmachten, entledigen musste, wenn man ein Gott werden wollte. Im Gespräch mit Zofia hatte er auch den letzten Funken Wärme in seinem Inneren erstickt und sich direkt etwas weniger menschlich gefühlt. Natürlich könnte er ihr das Geld für die erneute Rückreise in ihre Heimat geben. Tat er aber nicht.
Vor ein paar Tagen war ihm durch den Kopf geschossen, dass sie keinen Grund mehr hätte, nach Polen zurückzukehren, wenn ihre Schwester nicht wäre. Doch so kaltblütig war selbst er nicht. Stattdessen hatte er einen Arzt zum Haus ihres Onkels geschickt. Er versuchte sich davon zu überzeugen, dass das auch viel klüger war. Berechnender. Dass es nichts bedeutete. Und noch während er an dieser Sicht festhielt, musste er an ihre erste Begegnung denken.
Etwa zwei Jahre zuvor waren ihm Gerüchte über eine brillante jüdische Studentin zu Ohren gekommen, die man wegen Brandstiftung und Missbrauchs ihrer Schmiedekunstgabe der Universität verwiesen und ins Gefängnis gesperrt hatte. An dieser Geschichte schien ihm jedoch irgendetwas faul und so hatte er sich von seinem Kutscher zum Frauengefängnis bringen lassen. Zofia war scheu wie ein Fohlen, ihre auffallend blauen Augen wirkten eher animalisch als mädchenhaft. Da er es nicht über sich brachte, sie ihrem Schicksal zu überlassen, nahm er sie mit ins L’Éden. Wenige Tage später berichtete ihm das Personal, sie schlafe nachts immer mit einem Bündel Laken auf dem Boden statt in dem Bett mit der Decke aus Schwanendaunen. Als er das hörte, wurde ihm warm ums Herz.
Dasselbe hatte er bei all seinen Ersatzvätern getan. Er und Tristan waren nie lange bei einem von ihnen geblieben, daher war es gefährlich, sich zu sehr an etwas zu gewöhnen. Auch wenn es nur ein Bett war. Séverin hatte daraufhin alles aus Zofias Zimmer entfernen lassen und ihr einen Prospekt in die Hand gedrückt. Er hatte ihr gesagt, sie solle sich aussuchen, was sie davon gern haben wolle. Jedes Stück werde von ihrem Gehalt abgezogen, gehöre jedoch dann ganz allein ihr.
»Ich verstehe dich«, hatte er ihr zugeraunt.
Da hatte Zofia ihm zum ersten Mal ein Lächeln geschenkt.
ALS ER SICH der Sternwarte näherte, hörte er Klavierspiel. Es war ein beflügelnder Klang, voll der Hoffnung. Wie angewurzelt blieb er stehen. Die Musik war überwältigend, und für einen kurzen, wundersamen Moment schien sie geradewegs von den Sternen zu kommen, wie die sagenhafte Sphärenmusik – der majestätische Rhythmus der kreisenden Planeten. Als sie verstummte, ließ er die angehaltene Luft aus seiner bereits schmerzenden Lunge strömen.
»Nicht aufhören, Hypnos!«, kam es von Laila.
Séverin kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie gerade lächelte, obwohl er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sein Pulsschlag übertönte den Nachhall der Melodie. Zu lächeln fiel ihr leicht. Aber sie hatte schließlich auch nichts verloren. Sie mochte ein wenig enttäuscht darüber sein, dass sie Die Göttliche Lyrik nicht gefunden hatten. Jedoch hatte sie mit dem Buch nur die Neugier hinsichtlich ihrer Vergangenheit befriedigen wollen.
»Seit wann kannst du so gut Klavier spielen?«, fragte sie.
»So gut ist er nun auch wieder nicht«, brummelte Enrique.
Vor zwei Jahren hatte Enrique angefangen, das Klavierspiel zu erlernen. Sehr zum Verdruss aller anderen. Denn kurz darauf donnerten seine »Melodien« durch die Flure. Tristan hatte behauptet, ihm gingen die Pflanzen deswegen ein. Irgendwann hatte Zofia dann »aus Versehen« eine holzzersetzende Lösung über das Instrument geschüttet und seine Übungen damit ein für alle Mal beendet.
Wieder setzte die Musik ein und beschwor weitere Erinnerungen herauf. Séverin krallte die Fingernägel in die Handfläche. Lasst mich in Ruhe , flehte er seine Dämonen an. Sie verschwanden, hinterließen aber den vermeintlichen Duft von Tristans Rosen.
Dieser erinnerungsschwere Geruch brachte ihn ins Straucheln. Gerade noch rechtzeitig riss er den Arm hoch, um sich im robusten Türrahmen abzustützen. Abrupt erstarb die Musik.
Er blickte auf. Hypnos war über das Klavier gebeugt und hatte mitten in der Bewegung innegehalten. Laila saß kerzengerade auf ihrem Lieblingsplatz, der grünen Chaiselongue, Zofia auf ihrem Hocker, eine ungeöffnete Streichholzschachtel im Schoß. Und Enrique schritt nicht mehr auf und ab, sondern war vor seinen Aufzeichnungen zur Göttlichen Lyrik , die am Bücherregal hingen, stehen geblieben.
Vor Séverins innerem Auge schoben sich zwei Bilder übereinander.
Früher. Heute.
Früher hätte es Tee und Butterplätzchen gegeben. Gelächter. Langsam richtete er sich auf, ließ den Türrahmen los und zupfte seine Manschetten zurecht. Herausfordernd sah er die anderen an.
Niemand erwiderte seinen Blick. Bis auf Hypnos.
»Wie ich höre, hast du gute Neuigkeiten für uns, mon cher .«
Séverin nickte steif und deutete auf die Notizen am Bücherregal.
»Bevor ich anfange, fassen wir noch einmal zusammen, was wir bereits wissen …«
Hypnos seufzte. »Muss das sein?«
»Das letzte Mal ist lange her«, sagte Séverin.
»Knapp zwei Monate, um genau zu sein«, gab Laila spitz zurück.
Séverin sah sie nicht an. Stattdessen gab er Enrique ein Zeichen. Für einen Moment starrte Enrique ihn ausdruckslos an, dann begriff er. Er räusperte sich und deutete auf eine Skizze, die ein Hexagramm – das Emblem des Gefallenen Hauses – und eine goldene Honigbiene sowie den Turm von Babel zeigte.
»In den letzten Monaten haben wir versucht, Die Göttliche Lyrik ausfindig zu machen, ein uraltes Buch über das Geheimnis der Schmiedekunst. Mit dem darin enthaltenen Wissen soll man die Babelfragmente zusammenfügen können und – laut dem Gefallenen Haus – zu göttlicher Macht gelangen«, sagte Enrique. Er suchte Séverins Blick, als wollte er sichergehen, dass er auch auf dem richtigen Weg war. Séverin hob die Augenbrauen.
»Äh … zum Buch selbst gibt es nur wenige Informationen«, beeilte er sich zu sagen. »Die meisten davon stammen aus Legenden. Der einzig sichtbare Beleg für die Existenz des Buchs ist die verblasste Schrift auf einem Stück Pergament. Ein Tempelritter soll damals den Titel niedergeschrieben haben. Allerdings fehlen einige Buchstaben …«
Enrique zeigte ihnen eine Abbildung:
DIEGÖTTLICHELYR
»Der Überlieferung zufolge gibt es das Buch schon seit der babylonischen Sprachverwirrung«, fuhr er fort. Der altbekannte Glanz der Aufregung trat in Enriques Augen. »Angeblich haben ein paar Frauen die obersten Steine des Turms berührt, wodurch ihnen das Wissen der heiligen Sprache zuteilwurde. Diese Erkenntnisse hielten sie in einem Buch fest und machten es sich und ihren Nachfahren zur Aufgabe, die Geheimnisse darin zu hüten, damit niemand die heilige Sprache dazu missbrauchen könnte, den Turm von Babel wiederzuerrichten. Ist das nicht faszinierend?«
Enrique lächelte, seine Hand flog zur nächsten Skizze, auf der neun Frauen abgebildet waren.
»Man nannte sie die Verlorenen Musen, vermutlich in Anlehnung an die griechischen Göttinnen der Künste und Inspiration. Überaus passend, wenn man bedenkt, dass das Schmieden ebenfalls als göttliche Kunst betrachtet wird. In der Antike hat man den Musen zahlreiche Denkmäler gesetzt.« Er starrte wehmütig auf die Bilder. »Und über Die Göttliche Lyrik wird berichtet, es handele sich dabei nicht bloß um irgendein Buch, das jeder lesen kann, sondern man brauche besondere Fähigkeiten dafür, die ausschließlich an die Nachfahren der Verlorenen Musen vererbt würden.«
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