1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Enrique erschauderte und bekreuzigte sich.
»Anschließend tauchte Wassiljew für einige Jahre ab. Zu der Zeit muss er den Göttinnensaal erworben haben. Seine Schuldgefühle trägt er noch heute um den Hals.«
»Jetzt fällt es mir wieder ein … der russische Eremit«, sagte Hypnos und schüttelte den Kopf. »Wie willst du ihn aus dem Haus locken? Was den Klatsch und Tratsch von Sankt Petersburg angeht, bin ich schon länger nicht mehr auf dem neuesten Stand, aber soweit ich weiß, verlässt er sein Haus nur für …«
»Das kaiserliche Ballett«, beendete Séverin den Satz und wechselte zu einem Bild des stattlichen Mariinskij-Theaters in all seinem Glanz und Prunk. Auf den Außenbalkonen drehten geschmiedete Ballerinen ihre Pirouetten im Mondschein, bevor sie sich in Rauch auflösten. »Die nächste Aufführung ist in drei Tagen und er wird dort sein. Ich brauche einen Platz neben seiner privaten Loge.«
Hypnos schnippte mit den Fingern. »Ist so gut wie erledigt. Für Ordensmitglieder ist dort dauerhaft eine Loge reserviert. Ich kann dir eine Karte besorgen.«
»Wie das?«, fragte Enrique.
»So, wie immer.« Hypnos zuckte mit den Schultern. »Mit Geld, Charme et cetera pp.«
»Ich werde mehr als eine benötigen. Eher zwei oder drei«, sagte Séverin und riskierte einen Seitenblick auf Laila. »Laila wird mich als Mätresse auf diese Mission begleiten. Aber es wäre gut, wenn sich noch jemand anschließen würde.«
Schweigen.
Séverin hob die Augenbrauen. »Man sollte doch meinen, dass zwei Leute genügen, um sich Zutritt zu Wassiljews Haus zu verschaffen. Jemand Drittes kommt mit uns.«
Erneutes Schweigen.
Enrique schien auf einmal fasziniert von seinen Fingernägeln. Zofia machte eine finstere Miene. Séverin sah zu Hypnos. Doch von ihm erntete er nur ein »Ts«.
»Für kein Geld der Welt würde ich mich zwischen euch beide in die Zuschauerloge setzen.«
Enrique griff hastig nach einem Glas Wasser und trank so gierig daraus, dass er sich prompt verschluckte. Zofia klopfte ihm auf den Rücken. Séverin versuchte, Lailas Blick zu meiden, aber es war, als wollte er die Sonne ignorieren. Er musste sie nicht sehen, um zu bemerken, dass sie ihn anfunkelte.
»Es gibt noch einige andere Dinge zu beachten«, sagte Séverin schroff. »Wassiljew hat einen eigenen Privatsalon im Theater, den er nur zusammen mit seinen Wachen aufsucht. Zutritt wird nur denjenigen mit einem ganz bestimmten Blutschmiedekunst-Tattoo gewährt …«
»Blutschmiedekunst?«, wiederholte Zofia und wurde blass.
Hypnos pfiff durch die Zähne. »Zweifelsohne ein recht teures Vergnügen.«
»Blutschmiedekunst? Was ist das noch gleich?«, fragte Enrique. »Das habe ich doch schon mal irgendwo gehört.«
»Eine Mischung verschiedener Gaben«, erklärte Zofia. »Für Geist und Materie, für Metall in Flüssigkeiten und Festkörpern.«
»Es ist sehr selten, dass man jemanden findet, der sowohl den Geist als auch das Eisen im Blut manipulieren kann«, fügte Hypnos hinzu. Er grinste verschmitzt. »Aber auch äußerst erquicklich.«
Séverin war derartigen Künstlern im L’Éden schon einige Male begegnet. Viele von ihnen konzentrierten sich bei der Optimierung ihrer Fähigkeiten jedoch lieber auf das Schmieden von Eis. Diejenigen aber, die sich auf Blut spezialisierten, wurden vor allem von Klienten aufgesucht, die es entweder nach Betäubung während schmerzhafter medizinischer Eingriffe verlangte oder nach Entspannung, um die Sinne für gewisse »Vergnüglichkeiten« zu schärfen.
»Wir brauchen etwas, um Wassiljew von seinen Wachen zu trennen«, sagte Séverin. »Etwas, das Menschen entzweien kann …«
»Geld?«, fragte Enrique.
»Liebe!«, steuerte Hypnos bei.
»Magnete«, sagte Zofia.
Laila, Enrique und Hypnos starrten sie an.
» Starke Magnete«, verbesserte sich Zofia.
»Kriegst du das hin?«, fragte Séverin.
Zofia nickte.
»Damit haben wir aber noch nicht geklärt, wie wir in den Salon kommen«, gab Enrique zu bedenken.
»Was das betrifft, habe ich schon eine Idee«, sagte Laila. »Schließlich bin ich L’Énigme, und wenn ich das möchte, eilt mein Ruf mir weit voraus.«
Widerwillig sah Séverin sie nun doch an. Tausend Bilder setzten sich vor seinen Augen zusammen und zerfielen wieder. Er sah ihr zuckerbestäubtes Haar. Ihren Körper – verschwommen am Rande seines Blickfeldes – an dem Abend im Palais des Rêves, an dem er sich auf sie geworfen hatte, weil er dachte, Roux-Joubert hätte es auf sie abgesehen. Er erinnerte sich an die Worte, die sie so sehr verletzt hatten, und wünschte inzwischen, sie wären wahr. Wenn sie doch nur nicht echt wäre!
Fragend sah Laila ihn an. »Ich soll dir doch helfen, oder etwa nicht?«
»Ja.« Séverin tat so, als würde er seine Ärmel zurechtzupfen. »Übermorgen brechen wir auf nach Sankt Petersburg. Bis dahin haben wir noch eine Menge zu tun.«
»Und was machen wir, sobald wir die Tezcat-Brille haben?«, fragte Hypnos. »Informieren wir den Orden und –«
»Nein«, unterbrach Séverin ihn scharf. »Ich will nicht, dass sie sich einmischen. Nicht, bevor wir nicht genau wissen, womit wir es zu tun haben. Bald findet die Winterversammlung in Russland statt. Wenn wir bis dahin mehr in Erfahrung gebracht haben, weihen wir sie ein.«
Hypnos runzelte die Stirn, doch Séverin ging nicht weiter darauf ein. Das hier würde er sich vom Orden nicht nehmen lassen. Nicht nach allem, was passiert war. Séverin wandte sich ab, um zu gehen. Draußen wurde es allmählich dunkel.
Früher hatte ihm dieser Raum zeigen sollen, dass die Sterne in Reichweite waren. Früher hatten sie alle den Kopf in den Nacken gelegt und staunend in den Himmel hinaufgesehen. Nun aber schienen die Sterne sie mit ihrem strahlenden Weiß zu verhöhnen: das spöttische Grinsen des Schicksals. Konstellationen, die sich wie eine überirdische Handschrift über das Firmament zogen und das unabänderliche Los aller Sterblichen festlegten. Jedoch nur, bis sie das Buch fanden, dachte Séverin.
Dann könnten die Sterne ihnen nichts mehr anhaben.
Laila 
Laila sah zu, wie Séverin die Sternwarte verließ. Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte.
Einerseits wagte sie zum ersten Mal seit Wochen wieder zu hoffen. Sollte Séverins Informant recht behalten, bot sich ihr womöglich doch noch die Chance auf mehr Lebenszeit. Andererseits wurde ihre aufkeimende Euphorie von dem Hass auf Séverin überlagert. Sie verabscheute die Kälte, die aus seinen Augen sprach, und den hämischen Zug um seinen Mund, wenn er lächelte. Und sie verabscheute den Schmerz, der sie bei seinem Anblick durchfuhr und sie daran erinnerte, dass er sie einst in Erstaunen versetzt hatte.
Am schlimmsten aber war die Hoffnung, dass er, sobald er Die Göttliche Lyrik erst einmal gefunden hatte, wieder so werden könnte wie früher. Als würde er nur unter einem Bann stehen. Laila gab sich alle Mühe, diese Illusion im Keim zu ersticken, doch sie hielt sich hartnäckig in ihrem Herzen.
Während Enrique etwas von wegen »Bibliothek« murmelte, sagte Zofia leise: »In meinem Labor –«
»Non«, unterbrach Hypnos sie streng und bedeutete ihnen, sich nicht von der Stelle zu rühren. »Ihr bleibt hier. Ich bin sofort zurück. Ich habe eine Überraschung für euch.«
Er stürzte davon und ließ die drei allein. Laila musterte Zofia von der Seite. Vor der Zusammenkunft hatte sie kaum Zeit gehabt, mit ihr zu sprechen. Jetzt aber fielen ihr einige Sachen an ihr auf. Sie trug noch immer ihre Reisekleidung, hatte geisterhaft violette Schatten unter den Augen, und ihr Gesicht wirkte seltsam dünnhäutig, wie von Kummer gezeichnet. So sollte man nicht aussehen, wenn man gerade Chanukka mit seiner Familie gefeiert hatte.
Читать дальше