Hypnos könnte dieser Jemand für ihn sein.
Ein Partner für ein erfülltes Leben. Eines, wie es auch Tristan hätte haben sollen, dachte Enrique unvermittelt. Er murmelte ein Gebet und berührte sacht die Blume an seinem Revers. Es war eine getrocknete Mondwinde, eine der letzten, die Tristan je geschmiedet hatte. Waren sie frisch, absorbierten sie das Mondlicht und konnten es hinterher über einige Stunden abgeben. Trocken war diese hier nur mehr ein Schatten ihres vormals leuchtenden Selbst.
»Die hast du von Tristan«, stellte Zofia fest.
Enrique ließ den Arm sinken. Er hatte sich unbeobachtet gefühlt. Als er zu ihr hinabblickte, auf ihre Hand in der Tasche, bemerkte er einen nahezu identischen Stängel zwischen ihren Fingern. Und er wusste, Tristan war bei ihnen.
DAS HERRENHAUS MIT Blick auf den Fluss ragte vor ihnen auf wie ein überdimensionales, festlich geschmücktes Puppenhaus. Schnee hatte sich in den Lamettagirlanden an den unzähligen imposanten Säulen verfangen. Der Weg zum Eingang war gesäumt von Tannen, in denen versteckte Glöckchen bimmelten. Bonbonfarbene Mosaiken bedeckten die Kuppeln und die frostverzierten Fenster wirkten wie aus Zucker.
»Erinnerst du dich an unsere Rollen?«, fragte Enrique.
»Du verkörperst einen leicht ablenkbaren, exzentrischen Menschen …«
»Einen Schriftsteller, genau«, unterbrach er Zofia.
»Und ich bin der Fotograf.«
»Ein sehr schweigsamer Fotograf.«
Zofia nickte.
»Lenk den Kammerdiener nur ein paar Minuten ab. Das sollte mir genug Zeit verschaffen, um nach Aufzeichnern Ausschau zu halten, bevor wir den Göttinnensaal betreten.«
Er zupfte den Kragen seines leuchtend smaragdgrünen Samtsakkos zurecht, das er sich von Hypnos geliehen hatte, dann betätigte er den enormen Türklopfer in Form eines brüllenden Löwen. Offenbar war er geschmiedet, denn er verengte die Augen zu Schlitzen, täuschte ein Gähnen vor und ließ daraufhin ein kräftiges, blechernes Gebrüll hören, das die Eiszapfen vom Türrahmen schüttelte. Enrique stieß einen Schrei aus.
Zofia blieb gelassen und hob lediglich eine Augenbraue, sobald er sich wieder gefasst hatte.
»Was?«, fragte er.
»Das war laut.«
»Ja, oder? Dieser Löwe …«
»Ich meinte dich.«
Enrique zog eine Grimasse. In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet und der Kammerdiener begrüßte sie mit einem breiten Lächeln. Er hatte helle Haut, einen akkurat gestutzten schwarzen Bart und trug einen bestickten silberblauen Mantel zu bauschigen Hosen.
»Dobryi wetscher« , sagte er herzlich. »Monsieur Wassiljew ist untröstlich, dass er Sie nicht persönlich empfangen kann, doch es freut ihn ungemein, dass man über seine Sammlung berichtet. Insbesondere, wenn es ein so geschätzter Kunstkritiker tut, wie Sie es sind.«
Enrique plusterte sich auf und lächelte ebenso breit zurück. Die falschen Referenzen, die er zusammengestellt hatte, wirkten in der Tat äußerst beeindruckend. Zofia und er traten in das geräumige Vestibül. Bisher schienen die Pläne zu stimmen, die sie sich im Vorfeld besorgt und angesehen hatten. Muster aus Sternen und Rhomben zierten das Mahagoniparkett. Schwebende Laternen erleuchteten die mit Gemälden geschmückten Wände. Sie stellten allesamt Frauen in Bewegung dar. Einige waren mythologisch inspiriert, andere wirkten modern. Enrique erkannte Salomes Tanz der sieben Schleier und eine Darstellung der indischen Nymphe Urvashi, die vor den Hindu-Gottheiten auftrat. Es war jedoch das Porträt einer ihm unbekannten Frau, das die Wand beherrschte. Blutrote Haare kringelten sich an ihrem weißen Hals hinab. Nach den Schuhen zu urteilen, die sie auf dem Schoß hielt, handelte es sich um eine Ballerina.
Der Kammerdiener streckte die Hand aus. »Wir fühlen uns sehr …«
Enrique hob die eigene Hand, zog sie aber zurück, ehe der Mann sie ergreifen konnte, damit er sein Zittern nicht bemerkte. »Unglücklicherweise ertrage ich es kaum, fremde Haut zu berühren. Dies erinnert mich stets an meine Sterblichkeit.«
Der Kammerdiener wirkte ein wenig verstört. »Ich bitte inständig um Verzeihung.«
»Anständig wäre mir lieber«, sagte Enrique blasiert und betrachtete seine Fingernägel. »Nun …«
»Ist die fotografische Ausrüstung angekommen?«, mischte sich Zofia ein.
Enrique brauchte einen Sekundenbruchteil, um seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen. Etwas musste Zofia abgelenkt haben. Sie brachte ihre Einsätze sonst nie durcheinander. Jetzt, da er sie ansah, bemerkte er außerdem, dass sich ihr Schnurrbart an den Rändern leicht ablöste.
»Ja, ist sie. In einer äußerst geräumigen, verschlossenen Reisetruhe«, antwortete der Kammerdiener mit gerunzelter Stirn. Sein Blick irrte flüchtig zu Zofias Bart. »Verzeihen Sie, aber … ist alles in Ordnung?«
Enrique stieß ein hysterisches Lachen aus.
»Ah, dieser gute Mann! Wie aufmerksam er doch ist!« Er nahm Zofias Gesicht in die Hände und drückte unauffällig die Bartenden fest. »Welch ein Meisterwerk ist der Mensch! Wie edel durch Vernunft! Wie unbegrenzt an Fähigkeiten … äh …«
Enrique hielt inne. Das war leider alles, was er aus Hamlet behalten hatte. Da setzte Zofia ein: »… in Gestalt und Bewegung, wie bedeutend und wunderwürdig.«
Sprachlos starrte Enrique sie an.
»Sie müssen das exzentrische Gebaren meines Freundes verzeihen«, fuhr sie mit deutlich tieferer Stimme fort, nachdem sie sich offenbar wieder an ihre Rolle erinnert hatte. »Wären Sie so freundlich, mir einige der anderen Räume zu zeigen? Nur ein kurzer Rundgang, mehr wird nicht vonnöten sein. Ich möchte lediglich herausfinden, ob sich weitere Motive für den Artikel eignen.«
Der Kammerdiener machte noch immer große Augen, nickte aber bedächtig. »Hier entlang, bitte …«
Enrique drehte sich langsam um sich selbst, legte die Finger an die Schläfen und atmete tief ein. »Ich werde hier verweilen. Ich muss die Kunst zuerst in mich aufnehmen, sie fühlen , bevor ich mir herausnehme, über sie zu schreiben. Sie verstehen?«
Der Bedienstete schenkte ihm ein angestrengtes Lächeln. »Tun Sie, worauf Sie sich am besten verstehen.«
Und damit führte er Zofia den Flur hinunter.
Sobald sie außer Sicht waren, zog Enrique eine geschmiedete Kugel aus der Tasche, warf sie in die Luft und sah zu, wie sie den Raum nach Aufzeichnern absuchte. Die Worte des Kammerdieners hallten in seinem Kopf nach. Worauf Sie sich am besten verstehen . Er fühlte sich zurückversetzt in den Lesesaal der Nationalbibliothek, als er mit feuchten Fingerspitzen Notizen des Vortrags umklammert hatte, zu dem niemand erschienen war. Und als er den Brief der Ilustrados gelesen hatte.
… Schreiben Sie Ihre inspirierenden historischen Artikel. Tun Sie, worauf Sie sich am besten verstehen …
Noch saß der Schmerz tief. Enriques Referenzen hatten ihm nichts genutzt. Er hatte ohnehin kaum erwartet, dass die Worte seiner Professoren und Mentoren großes Gewicht haben würden, aber dass nicht einmal Séverins Einfluss geholfen hatte … Dessen öffentliche Unterstützung bedeutete einen allerorts gleichermaßen hochgeschätzten Faktor: Geld. Doch womöglich waren seine Ideen so töricht, dass kein Geld der Welt es wert war, seinen Ausführungen zu lauschen. Vielleicht war er einfach nicht genug.
Worauf Sie sich am besten verstehen .
Enrique knirschte mit den Zähnen. Inzwischen war die Aufspürkugel auf dem Boden angelangt. Die Luft war rein. Am anderen Ende des Vestibüls hörte er Schritte. Zofia und der Kammerdiener kamen zurück. In wenigen Augenblicken würden sie den Göttinnensaal betreten, in dem sich die Tezcat-Brille befand, die sie letzten Endes zu der Göttlichen Lyrik führen würde . In den Augen der Ilustrados tat Enrique offenbar nichts weiter, als sich mit toten Sprachen und staubigen Büchern die Zeit zu vertreiben, und seine Ideen erschienen ihnen wertlos. Entdeckte er jedoch Die Göttliche Lyrik , wäre das Beweis genug, dass mehr in ihm steckte. Dann konnten sie nicht länger übersehen, dass seine Fähigkeiten Macht verhießen.
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