Jetzt musste er das Buch nur noch auftreiben.
DER ANBLICK DES Göttinnensaals ließ Enrique beinahe auf die Knie sinken. Er glich dem Foyer eines verlassenen Tempels. Lebensgroße Göttinnenstatuen lehnten sich aus Wandnischen, und an der reich verzierten himmelblauen Decke drehten sich mechanische Sterne und Planeten wie auf einer unsichtbaren Achse. Angesichts eines solchen Kunstwerks kam er sich klein und unbedeutend vor, allerdings auf eine erhabene Art, als wäre er Teil eines größeren Ganzen, umgeben von göttlicher Liebe. So hatte er früher während der Sonntagsmesse empfunden. Hier, in diesem Raum, durchströmte ihn seit Jahren zum ersten Mal dasselbe Gefühl.
Ehrfurchtsvoll raunte der Kammerdiener: »Der Saal ist wahrlich überwältigend. Wenngleich nur für kurze Zeit.«
Enrique wurde hellhörig. »Wie meinen Sie das?«
»Der Göttinnensaal hat eine einzigartige Eigenschaft. Noch verstehen wir deren Funktion nicht vollständig, aber wir erhoffen uns, dass Ihr Artikel ein wenig Licht in die Sache bringen kann. Sie müssen wissen … die Göttinnen … verschwinden.«
»Wie bitte?«
»Jede Stunde«, bekräftigte der Mann. »Sie verschmelzen mit der Wand und die Goldornamente verblassen.« Er sah auf die Uhr. »Nach meiner Schätzung sollten Sie noch etwa zwanzig Minuten haben, bis alles unsichtbar wird, um erst zur darauffolgenden Stunde wiederzuerscheinen. Doch mir schien es genügend Zeit für Ihre Fotografien und Notizen. Zumal es hier drinnen empfindlich kalt wird, sobald die Tür geschlossen ist. Wir glauben, der Schöpfer dieses Kunstwerks hat einen geschmiedeten Mechanismus zur Temperaturkontrolle eingebaut, möglicherweise um den Stein und die Farbe zu schützen. Wie dem auch sei, lassen Sie es mich wissen, falls ich Ihnen behilflich sein kann.«
Und damit verließ der Diener den Saal und schloss die Tür hinter sich. Enriques Herz klopfte ein stetes Oh nein, oh nein, oh nein .
»Wo ist Hypnos?«, fragte Zofia.
Wie aufs Stichwort drangen gedämpfte Geräusche an ihre Ohren. An einer der vergoldeten Wände, fast verdeckt von einer Säule, lehnte eine als Fotografieausrüstung gekennzeichnete Reisetruhe. Rasch öffnete Zofia die Schlösser. Der Deckel hob sich und mit säuerlicher Miene kletterte Hypnos heraus. Er schüttelte sich. »Das war höchst … unerquicklich.« Er seufzte theatralisch. Die plötzliche Helligkeit und die Schönheit des Zimmers ließen ihn blinzeln. Ein Ausdruck des Staunens huschte über sein Gesicht, war jedoch wie weggewischt, als er sich ihnen zuwandte. »Zofia, du bist zweifellos auch als junger Mann reizend, aber ohne den Bart gefällst du mir wesentlich besser … Warum ist es so kalt hier? Was habe ich verpasst?«
»Wir haben nur zwanzig Minuten, bevor die gesamte Göttinnen-Installation verschwindet.«
»Wie bitte?«
Während Zofia die Situation erläuterte, begutachtete Enrique die Statuen in ihren Nischen. Sie ähnelten sich auf seltsame Art. Seinen Informationen zufolge stammten sie aus verschiedenen Tempeln rund um den Globus … und doch trugen sie alle die fließenden Marmortuniken hellenischer Gottheiten … nur eine nicht. Sonst waren alle nahezu identisch, bis auf die Gegenstände, die sie zierten – Lyren, Masken, Schriftrollen oder Kräuterzweige.
»Merkwürdig. Ich dachte, wir würden auf Parvati und Ischtar, Freya und Isis treffen … aber diese Göttinnen hier … sie wirken alle so austauschbar.«
»Erspar uns die Kunstvorlesung, mon cher «, bat Hypnos. »Konzentrieren wir uns darauf, wo die Tezcat-Brille stecken könnte.«
»Im Inneren einer der Göttinnen«, schlug Zofia vor.
Enrique musterte die Sammlung. »Eher nicht. Ich weiß doch, wie die Geheimverstecke des Gefallenen Hauses funktionieren. Dahinter steckt immer irgendein Rätsel. Und die Mitglieder hätten nichts konstruiert, was die Zerstörung ihres Besitzes zur Folge hätte.«
»Kälte ist die Ausgangslage«, murmelte Zofia.
»Ich w-würde sagen, das ist re-l-lativ of-fensichtlich, ma ch-chère «, antwortete Hypnos mit klappernden Zähnen.
»Verändern wir also diesen Faktor. Fügen Wärme hinzu.«
Zofia schälte sich aus ihrem Sakko und riss mit einem Ruck das Futter heraus.
Hypnos schrie auf. »Das ist Seide!«
»Nicht ganz – das ist Soie de Chardonnet «, verbesserte Zofia und zog ein Streichholz hinter ihrem Ohr hervor. »Eine hoch entzündliche künstliche Seide, die im Mai auf der Weltausstellung präsentiert wurde. Eignet sich nicht für die Massenproduktion. Aber hervorragend für Fackeln.«
Sie entzündete das Hölzchen und hielt es an den Stoff, der sofort aufloderte. Die Luft wurde merklich wärmer. Doch weder an den Wänden noch in den Mienen der Statuen tat sich etwas. Die Chardonnet-Seide brannte wie Zunder, sie würde nicht lange reichen. Eher würde Zofia sich verletzen.
»Zofia, ich glaube, du hast dich getäuscht. Vermutlich bringt Hitze nichts.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher …« Hypnos nahm Enriques Gesicht in die Hände und neigte es sanft in Richtung Boden. Die dünne Schicht Reif auf dem Marmor taute, und etwas Silbriges kam darunter zum Vorschein, wie Buchstaben. »Vielleicht«, fuhr Hypnos fort, »hättet ihr euch den Göttinnen einfach zu Füßen werfen sollen.«
»Natürlich«, erwiderte Enrique und sank auf die Knie. »Der Boden.«
Zofia hielt ihre Fackel tiefer und allmählich fügten die Lettern sich zu einem rätselhaften Satz zusammen:
LIEBEVOLL VERSIEGELTE LIPPEN
ZEUGEN VON GEHEIMNISSEN
EINST BEKANNT
Séverin 
Séverin hatte sieben Väter, aber nur einen Bruder.
Sein vierter und ihm liebster Vater war Maßlosigkeit. Maßlosigkeit war ein freundlicher Mann mit vielen Schulden – was es gefährlich machte, ihn zu lieben. Tristan zählte stets die Minuten, die er fort war – aus Angst, er könnte sie verlassen –, ganz gleich, was Séverin auch tat, um ihn zu beruhigen. Nach Maßlosigkeits Beerdigung fand Séverin einen dreckverschmierten Brief unter seinem Schreibtisch.
Meine kleinen Goldgruben, es tut mir außerordentlich leid, aber ich werde mein Amt als euer Vormund nicht länger ausüben können. Ich habe um die Hand einer reizenden reichen Witwe angehalten, die nicht wünscht, Kinder um sich zu haben.
Séverin hielt den Brief fest umklammert. Wenn Maßlosigkeit bald heiraten wollte, warum hatte er sich dann mit Rattengift das Leben genommen? Ein Gift, das nur im Gewächshaus aufbewahrt wurde, um Schädlinge fernzuhalten. In einem Gewächshaus, das Maßlosigkeit so gut wie nie betrat, Tristan hingegen liebte.
»Du hast ja noch mich«, hatte Tristan bei der Beerdigung gesagt.
Ja, dachte Séverin. Aber war sein kleiner Bruder wirklich die Person, die er vorgegeben hatte zu sein?
WÄHREND DIE TROIKA durch die Straßen von Sankt Petersburg rumpelte, holte Séverin Tristans Taschenmesser hervor. Eine schimmernde Ader mit Goliaths betäubendem Gift verlief entlang der Schneide. Wenn er das Messer berührte, bildete er sich ein, über weiche Federn zu streichen, über Rückstände von Tristans Gewalttaten. Doch dann erinnerte er sich an Tristans breites Grinsen und seine klugen Witze. Es passte einfach nicht zusammen. Wie konnte jemand so viel Liebe und zugleich so viel Finsternis in seinem Herzen tragen?
Die Troika kam zum Stehen. Durch die zugezogenen Samtvorhänge vernahm er Gelächter, Violinenklänge und das glockenhelle Klirren von Gläsern.
»Wir haben soeben das Mariinskij-Theater erreicht, Monsieur Montagnet-Alarie«, schallte es vom Kutschbock her.
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