Da noch Zeit war, setzte sie sich in den einen Sessel, der in ihrer kleinen Wohnung Platz hatte, und dachte nach. Am liebsten hätte sie sich fürs Nachdenken aufs Bett gelegt, aber da bestand die Gefahr, dass sie einschlief, und das konnte sie sich nicht leisten. Carlo verließ sich auf sie, ihn durfte sie auf keinen Fall im Stich lassen.
Dass sie sich vor zwei Tagen nachts freiwillig dem Suchtrupp angeschlossen hatte, rechnete er ihr hoch an. Man kannte sie als starke und sichere Läuferin, sie war mit allen Loipen vertraut. Auch mit der Nachtloipe. Die Leute von der Rettung hatten denn auch nichts dagegen gehabt, dass sie mitkam. Im Gegenteil, sie waren froh gewesen um die Verstärkung. Notfalls hätten sie das gesamte Loipennetz absuchen müssen, und das mitten in der Nacht. Nach drei Stunden hatten sie Sue dann am Baawaldschtuzz gefunden. Es war kein schöner Anblick gewesen! Überall Blut. Einer der Männer vom Loipendienst musste sich übergeben. Sie nicht.
War sie nicht nur verbittert, war sie auch hartherzig geworden?, fragte sie sich und schaute erneut auf ihr Spiegelbild. Vielleicht schon. Jedenfalls hatte sie beim Anblick der toten Sue weder Mitleid noch sonst etwas empfunden. Sie war ganz cool geblieben. Den Männern hatte es Eindruck gemacht.
Weil sie für die vermisste Fabienne so rasch Ersatz gefunden hatte, war Carlo von ihr beeindruckt. Es war aber auch wirklich ein guter Einfall gewesen, Nik aus dem Stall zu holen, und ein Glück, dass der sofort einspringen konnte. Damit hatte sie nicht unbedingt gerechnet, denn Nik hätte allen Grund gehabt zu schmollen und ihr einen Korb zu geben. Carlo hatte ihn, den Reckinger, der seit Jahren zum Skilehrerteam seiner Schule gehört hatte, in den letzten beiden Jahren übergangen, um nicht zu sagen ausgebootet. Die Minstigerin Fabienne Bacher dagegen hatte er wieder als Skilehrerin angestellt. Ebenso ihren Mann, den Björn. Und obendrein Claire, diese Unterländer-Tussi. Wenn nun auch Björn ausfiel, war guter Rat teuer. Einen Skilehrer für die Rennklasse würde sie nicht so rasch auftreiben können. Da musste Carlo wohl weiterhin selbst einspringen.
Zara hätte gern gewusst, wie es um Björn eigentlich stand. War er wirklich in der Psychiatrie gelandet, wie es hieß? War er am Tod seiner Frau zerbrochen?
Bei diesem Gedanken war alles auf einen Schlag wieder da: Antonio. Der Schock. Die inneren Bilder. Der Schmerz. Die Verzweiflung. Sie spürte eine heftige Beklemmung. Oder war es das Gegenteil, war es eine plötzliche Entspannung? Sie fasste sich mit beiden Händen an Brust und Hals und atmete tief durch. War das Herz wirklich in Ordnung, wie ihr Hausarzt immer wieder versicherte? Gab es nicht doch so etwas wie gebrochene Herzen?
Allmählich ließ das bedrohliche Gefühl nach.
Oder war Björn an etwas anderem zerbrochen?, fragte sie sich weiter: am Tod seiner Geliebten? Denn dass zwischen ihm und Sue etwas lief – dass etwas gelaufen war –, das hatte ja ein Blinder gesehen. Das hatte sie auch dieser Polizistin gegenüber angedeutet, als die nach Spannungen zwischen den Eheleuten Björn und Fabienne gefragt hatte. Das war Ende letzter Woche gewesen, und damals ging es noch um die Vermisstmeldung. Es ging um das Motiv für Fabiennes Verschwinden und um die mögliche Suizidgefahr.
Heute war sie noch einmal befragt worden. Natürlich wurde dieser Inspektor Gsponer hellhörig, als sie ihm das von Sue und Björn sagte. Er hatte auch mit den Steffen-Brüdern gesprochen. Klar, denn nicht nur die Langlaufschule war betroffen, sondern durch Sues Tod auch das Hotel.
Franz Brongg, Sues Ehemann, war nicht im Kursbüro erschienen, aber das hatte sie nicht anders erwartet. Er hatte sich schon vor einem Jahr zusammen mit Sue für den Viertageskurs vom dreizehnten Dezember angemeldet. Nur war Sue, die ehrgeizigere Sportlerin, schon eine Woche früher gekommen, um sich einen Trainingsvorsprung zu verschaffen. Ab morgen hätten die beiden gemeinsam am Kurs teilgenommen. Franz hatte jetzt natürlich anderes zu tun, als bei ihr vorbeizukommen und sich vom Kurs abzu- melden.
Dafür war dieser Kauz vorbeigekommen.
Bloß um sich zu erkundigen, wer morgen die Skater-Einsteiger betreute! Danach hätte er doch irgendwann fragen können … Natürlich hatte er nicht wirklich gestört, eigentlich hatte sie sogar eine kurze Freude verspürt, als er auftauchte. Nein, es blieb dabei: Er war kein Don Juan. Aber er hatte einen schalkhaften Eulenblick. Und er hatte eine ziemlich tiefe, warme Stimme. Eine Stimme, die Vertrauen einflößte.
Dass er sich ein bisschen für sie interessierte, war nicht von der Hand zu weisen. Immerhin hatte er heute, während Carlos peinlicher Schweigeminute, ihren Blick gesucht. Und gerade eben, an der Theke, hatte er sie auch wieder so angeschaut. Sie musste zugeben: Das tat gut.
Vergiss es, Zara!, rief sie sich innerlich zur Räson, er ist definitiv nicht dein Typ.
Vielleicht war er aber ein Mann, dem sie sich anvertrauen konnte. Einer, dem sie ihre Geschichte erzählen konnte. Einer, der sie verstehen würde. Doch sie musste vorsichtig sein. Sie hatte sich schon mehr als einmal in einem Menschen getäuscht. Sie beschloss, Kauz erst einmal auf den Zahn zu fühlen.
Entschieden stand sie auf, schlüpfte in Windjacke und Schneestiefel und machte sich auf den Weg zum Galenblick.
*
Im Speicher war es wohlig warm. Draußen schneite es seit Stunden unaufhörlich. Endlich schien sich der seit Tagen versprochene Wetterumschlag einzustellen: zwei Tage Schneefall, mit Unterbrechungen, in denen ein paar Sonnenstunden zu erwarten waren. Danach eine stabile Schönwetterlage. Man durfte sich auf herrliches Langlaufwetter freuen, weit über das Wochenende hinaus.
Der im Ofen gebackene Flammkuchen mit Speck, Zwiebeln, viel Crème fraîche und etwas Kümmel hatte geschmeckt, der Walliser Riesling auch. Aus den Boxen erklang As Time Goes By . Die Old Harlem Ramblers waren zwar eine Altherrenband, aber der Sound gefiel Kauz, und er summte leise mit. Als Digestif hielt er ein Gläschen Heidelbeerlikör in der Hand. Im Windlicht brannte eine Bienenwachskerze. Sie spendete warmes, kaum flackerndes Licht, verbreitete einen feinen Duft und warf wunderliche Schatten. Max lag zu seinen Füßen und ließ sich den Kopf kraulen.
Kauz war jetzt schon gute zwei Wochen im Goms. Knapp drei weitere Wochen Gommer Winter standen ihm noch bevor, und die würde er auskosten.
In dieser Zeit würde er sich definitiv für einen Job entscheiden müssen: Zürich oder Wallis, das war die Frage. Er hatte sich vorgenommen, Senn erst am einunddreißigsten Dezember Bescheid zu geben, keinen Tag früher. Ihn so lange zappeln zu lassen, war seine persönliche kleine Rache. Sein damaliger direkter Vorgesetzter hatte ihn schließlich auch im Regen stehen lassen, als die Kommandantin ihn desavouierte. Wenn er sich für den Job in Zürich entschied, würde er seine Arbeit kurz nach Neujahr aufnehmen. Entschied er sich fürs Wallis, dann stand es ihm frei, die neue Stelle auch erst im Februar oder März anzutreten. Vieles sprach natürlich für Zürich, wo Kauz als Dienstchef Leib und Leben wieder sein altes Team führen würde. Das Polizeikorps war ihm vertraut wie eine Familie. Aber genau wie in einer Familie, in der es auch mal Zwist und Missgunst gab, war Kauz verletzt und gedemütigt worden. Die Wunden waren noch längst nicht verheilt. Da half auch die völlige Rehabilitierung nicht. Das Wallis dagegen würde einen kompletten Neuanfang bedeuten. Allerdings würde er kaum im Goms wohnen können. Sonst hätte er längst zugesagt. Sein Arbeitsort wäre Visp oder gar Sitten – höchstens noch Brig. Je nachdem würde er pendeln können oder eben nicht. Und wie man ihn als Üsserschwiizer im Wallis aufnehmen würde, war auch unsicher.
Wie ein Student, dem zwei Mädchen eine Entscheidungsfrist gesetzt hatten, schob Kauz die Sache vor sich her. Er sagte sich, dass die Ferien ja noch lange dauerten und sich die Entscheidung inzwischen ganz von selbst ergeben könnte.
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