Dies sorgte in der letzten Zeit für weitere Verluste. Im Jahr 2013 fanden allein im Golf von Guinea 48 Seeräuberattacken statt, darunter zwei Schiffsentführungen, 13 Feuerüberfälle und 13 Enterungen, wobei 36 Seeleute gekidnappt wurden und ein Seemann den Tod fand. Damit wird offensichtlich: So leicht lässt sich eine der ältesten Geißeln der Seefahrt nicht bezwingen. Zu krass ist das Missverhältnis zwischen der bitteren Armut der durch Kriege erschütterten Staaten, der sogenannten »Failed States«, und dem Reichtum der vorbeifahrenden Containerschiffe. Zu groß ist die Verlockung, Pirat zu werden. Zu leicht war es in den letzten beiden Jahrzehnten, mit Piraterie schnelles Geld zu verdienen. Viele Seeräuber in den typischen Piratenregionen wie Indonesien und dem somalischen Puntland sind meist einfache Fischer. Sie können kaum von ihrem Gewerbe leben und verdienen sich mit Seeraub ein Zubrot. Auf ihr Kerbholz gehen oft Delikte wie Diebstahl und bewaffneter Raub im Hafen und in der Hoheitszone ihres Heimatlandes. 2013 kam es allein in der Malakkastraße zu 149 Vorfällen, von denen 77 Prozent Diebstähle oder geringfügige Delikte waren. Sie alle wurden im Schutze der Dunkelheit begangen, blitzschnell ausgeführt und endeten damit, dass die Piraten im dichten Inselgewirr Indonesiens untertauchten, was eine Verfolgung meist unmöglich machte.
Dieser Art von Subsistenzpiraterie steht die gewerbliche Seeräuberei organisierter Verbrecherbanden gegenüber. Ihr Portfolio reicht vom Diebstahl ganzer Schiffe, Schiffsentführungen bis zur Erpressung von Lösegeld für Mannschaft und Schiff. Diese Banden sind hervorragend organisiert, ihre taktischen Manöver gleichen Militäroperationen. Im Habitus und Auftreten erinnern sie eher an Milizen als an Piraten, was an ihrer hervorragenden Bewaffnung liegt. Ihre Operationsbasen oder Schlupfwinkel sind entweder gesichert wie Festungen oder befinden sich in völlig unübersichtlichen Inselgruppen. Manchmal ist es die militärische Stärke der Piraten oder, wie im Fall von Somalia, die Gefahr einer politischen Eskalation, welche die Seeräuber vor Verfolgung schützt. Oft vereiteln auch korrupte Staatsorgane und Militärs die Strafverfolgung der Seeräuber, da sie selbst an deren Raubzügen prozentual beteiligt sind. Wer glaubt, dass dies jedoch nur eine Spielart moderner Piraterie ist, irrt sich. Die Geschichte zeigt, dass die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, unter denen sich Piraterie entwickelte, stets gleich waren. Zu jeder Zeit fielen Seeräuber über blühende Küstenstriche her, lauerten Piraten an den wichtigsten Handelsstraßen Kauffahrern auf. Stets waren es dieselben Faktoren, unter denen Seeraub stattfand.
Bittere Not, Kriegswirren und völlige Rechtsfreiheit bewirkten zu allen Zeiten einen Boom von Piraterie. Seeräuber wie Wikinger und Vandalen plünderten das Meer und entvölkerten mit ihren Überfällen ganze Landstriche. Meist leiteten ihre über Jahrzehnte währenden Überfälle sogar vorläufige Landnahmen ein, die zu dauerhaften Eroberungen wurden. Den gleichen Weg gingen Sarazenen und Barbaresken. Jahrhundertelang bedrohten sie die christliche Seefahrt, wobei sie sich an den Küsten des Mittelmeeres festsetzten und Staaten bildeten.
Seeräuberbünde wie Vitalier, Likedeeler und Bukanier schufen gefährliche politische Freiräume, in denen sie nach Lust und Laune walteten. Protestantische Seeräuber meist englischer und niederländischer Nation jagten unter dem Deckmantel, den katholischen Antichristen zu bekämpfen, dem spanischen Gold nach. Indische, chinesische und indonesische Seeräuber wurden zur Nemesis westeuropäischer Handelskompanien und Kolonialreiche, bis diese ihre Herausforderer strafrechtlich zu verfolgen begannen und letztendlich besiegten. Die Männer, die im Auftrag der geschädigten Mächte den Kampf mit den Seeräubern aufnahmen, waren oft aus demselben Holz geschnitzt wie ihre Todfeinde. Unter ihnen befanden sich ehemalige Freibeuter, einstige Kapitäne der Handelsmarine und hohe Seeoffiziere. Doch auch ehrgeizige Politiker, Händler und Herrscher kämpften gegen Piraten. Mit äußerster Zähigkeit jagten sie ihre Gegner, die ihnen im Falle der Niederlage genauso wenig Pardon gewährten, wie sie selbst den Seeräubern. Dramatische Zweikämpfe und erbitterte Seegefechte waren ihr tägliches Brot. Trotzdem sind die meisten von ihnen vergessen. Im Gegensatz zu Seeräubern wie Klaus Störtebeker, Henry Morgan und Edward Teach fand kaum ein berühmter Piratenjäger den Weg in die Welt von Volkssage, Lied, Roman und Kino. Versuche, dies zu ändern, scheiterten. Daran konnte selbst staatliche Erinnerungskultur nichts ändern. Obwohl in Hamburg die Kolossalstatuen der Piratenjäger Simon von Utrecht und Ditmar Koel für jedermann sichtbar die Brückenpfeiler der Kersten-Miles-Brücke zieren, kennt sie kaum jemand aus der Bevölkerung. Dies liegt daran, dass die Feinde der Seeräuber weder Mythen noch romantisch verklärte Gloriolen umranken. Noch weniger eignen sie sich zur Projektion sozialutopischer Gegenentwürfe. Das Handwerk des Piratenjägers bestand aus nüchterner Polizeiarbeit, gepaart mit seemännischem Können und militärischem Mut.
Piratenjäger waren stets Repräsentanten der vorherrschenden Gesellschaftsordnung und als solche keine Streiter für soziale Gerechtigkeit. Vielmehr lagen ihrem Handeln machtpolitische und wirtschaftliche Erwägungen zugrunde. Ihre Aufgabe war die Wiederherstellung der Sicherheit auf See, sodass Menschen und Waren wieder sicher ihre Bestimmungsorte erreichen konnten. Viele von ihnen siegten, doch einigen wurde der Kampf gegen die Piraten zum Verhängnis, denn nicht immer verlief die Seeräuberjagd erfolgreich. Aber dies ist genau das stoffliche Spektrum, aus dem das Buch »Operation Piratenjagd« mit Hilfe von Quellen und Sekundärliteratur die Dramatik zieht.
Vorweg vielleicht noch einige klärende Worte zur Stoffauswahl. Wie der Titel des Buches schon sagt, ist dies hauptsächlich ein Werk über Seeräuberbekämpfung und Piratenjagden, kein Generalabriss der Piraterie. Mancher Leser wird berühmte Seeräuber und Freibeuter wie Francis Drake vermissen.
Dies hat den Grund, dass Drake trotz seiner Taten nicht Objekt gezielter Gegenmaßnahmen war. Sein letzter Raubzug gegen die Spanier 1596 war ein von der Englischen Krone und von Privatleuten, unter denen sich auch Drake und Hawkins befanden, finanzierter, regulärer Kriegszug. Auch wenn Lope de Vega später diesem Kampf und damit den spanischen Siegern in seiner Dichtung »La Dragontea« ein Denkmal setzte, fällt dieser Sieg nicht unter den Aspekt Piratenjagd. Die Thematik Drakes führt zu einer anderen Problematik, deren sich der Verfasser durchaus bewusst ist und die in einer Frage kulminiert: Was ist Piraterie? Was ist Korsarentum? Sind beide Phänomene überhaupt trennbar? Im 19. Jahrhundert orientierte sich das Völkerrecht am Piratenbegriff des portugiesischen Strafgesetzbuches von 1886, dessen § 162 die Piraterie folgendermaßen definierte:
»Pirat ist, wer als Führer eines bewaffneten Fahrzeugs auf dem Meer umherfährt ohne Auftrag eines Herrschers oder selbstständigen Staates, um Raub oder irgendwelche Gewaltakte zu begehen.
Diese an sich klare und praktische Definition verlor sich im letzten Jahrhundert. Heute wird im Völkerrecht unter Piraterie etwas anderes verstanden. Am 10. Dezember 1982 trat Artikel 101 der Seerechtskonvention der Vereinten Nationen in Kraft, der Seeraub folgendermaßen definiert:
»Seeräuberei ist jede der folgenden Handlungen:
1 jede rechtswidrige Gewalttat oder Freiheitsberaubung oder jede Plünderung, welche die Besatzung oder die Fahrgäste eines privaten Schiffes oder Luftfahrzeugs zu privaten Zwecken begehen und die gerichtet istauf hoher See gegen ein anderes Schiff oder Luftfahrzeug oder gegen Personen oder Vermögenswerte an Bord dieses Schiffes oder Luftfahrzeugs;an einem Ort, der keiner staatlichen Hoheitsgewalt untersteht, gegen ein Schiff, ein Luftfahrzeug, Personen oder Vermögenswerte;
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