Mit seinem mutigen Manöver, das manchem auf der Insel als „Jahrhundertereignis“ gilt, hätte sich Hinrichsen gewiss auch den Respekt der alten Seefahrer verdient. Ein Kapitän von Föhr zu sein, das bedeutete einst einen Status, wie ihn heute Fußballer aus Brasilien, Autobauer aus Schwaben oder Panflötenprofis aus Peru genießen: Sie galten als die Besten ihres Fachs.
Mit dem Walfang im nördlichen Eismeer, mit der Gewinnung des begehrten Rohstoffs Tran, hatte für das arme Föhr ein goldenes Zeitalter begonnen; im 17. und 18. Jahrhundert setzten besonders englische und hanseatische Kompanien auf die Dienste der Inselfriesen, was dazu führte, dass Frauen auf Föhr in den Sommermonaten weitestgehend unter sich blieben. 1750 lebten 5500 Menschen auf der Insel, von denen statistisch beinahe jeder Dritte zur See fuhr, darunter 150 sogar als Kapitäne und weitere 75 als Steuermänner. Nur Kinder, Greise und solche, denen man die gefährliche Reise nicht zutraute, blieben zurück. Es ist überliefert, dass sogar zehnjährige Bengel zur See gingen.
Dass sich im weiten Umkreis herumsprach, wie versiert die Seeleute von Föhr waren, liegt nicht nur an der oft besungenen Zähigkeit der Friesen, sondern vor allem an der Klugheit eines Pastors namens Richardus Petri, der von 1620 an fast sechs Jahrzehnte lang in St. Laurentii wirkte. Gleich nach seinem Amtsantritt hatte er damit begonnen, Männer seiner Gemeinde in Navigation, Mathematik und Astronomie zu unterrichten. Petri (der selbst niemals ein Schiff geführt hatte) knüpfte an die Ausbildung eine Bedingung: Wer es durch die kostenfreie Privatschule zum Kommandanten oder Steuermann brachte, der sollte seine Kenntnisse später kostenfrei an die Jugend weitergeben. Dieses System organisierter Selbsthilfe, im 17. Jahrhundert so modern wie heute, sorgte für hoch qualifizierten Nachwuchs und damit für Wohlstand, der die nächste Generation absicherte.
Früd Faltings, dessen Grabstein noch heute seine Geschichte erzählt, nutzte diese Chance ebenso wie ein gewisser Matthias Petersen, der zu einer echten Berühmtheit werden sollte. Petersen erlegte in seiner Laufbahn insgesamt 373 Wale, eine sagenhafte Zahl. Neben Reichtum brachte sie ihm auch einen Beinamen ein, „den er mit Zustimmung aller annahm“ (wie seine Grabplatte auf dem Friedhof von Süderende informiert): „Matthias der Glückliche“.
Geboren am Weihnachtstag des Jahres 1632, wurde er in der Seefahrtsschule des Pastors von St. Laurentii ausgebildet und bekam schon mit zarten 20 Jahren das Kommando über ein Walfangschiff. 19 Fangreisen unternahm er, vor allem in die Buchten von Spitzbergen. Als die Bestände dort ausgerottet waren, verlegten die Walfänger ihre Jagd auf die offene See, was weniger erfolgversprechend und weitaus gefährlicher war. Ging ein Schiff an die See verloren, bedeutete dies Elend und Hunger für ganze Dörfer. „Matthias der Glückliche“ aber meisterte auch diese Jahre, wobei ihm die lange Erfahrung als Kapitän zugutekam.
Die beiden Kronleuchter aus Messing, die er der Gemeinde stiftete, hängen heute noch im Kirchenschiff – und sein Name ist überall auf der Insel präsent, als Inspiration für Fischrestaurants oder Aufkleber an Straßenlaternen. Dass damals Walfänger, nach heutigem Maßstab Multimillionäre, ihre Kenntnisse weitergaben, dass sie, ganz anders als im Standesleben jener Zeit, mit Menschen jeder Schicht verkehrten, dass man sie duzte, sie sich kaum anders kleideten und verhielten als normale Matrosen, liegt an einer anderen Besonderheit der Föhringer.
„Noch heute kann man keinen größeren Fauxpas begehen, als seine materielle und geistige Überlegenheit zu zeigen“, sagt der Historiker Volkert Faltings, der die Navigationsgeschichte erforscht hat. Was erwartete Angeber auf Föhr? „Schweigendes Nichtbeachten und spöttische Blicke!“ Mehr als Wind und Wellen setzten französische Freibeuter der Familie Petersen zu. Anno 1701 wurde Petersens ältester Sohn Matz, ebenfalls Kommandant eines Walfängers, nach St. Malo entführt und erst nach nach Zahlung eines Lösegelds freigelassen. Petersen selbst wurde auf seiner letzten Reise 1702 von Franzosen aufgebracht. Er kaufte sich und seine Crew für 8000 Reichstaler frei. Seine Söhne Ock und John fielen wenig später im Kampf gegen französische Seeräuber.
Über Jahrhunderte bewährte sich das System der lokalen Wissensweitergabe, bis 1867, als die Preußen das Herzogtum Schleswig annektierten. Sie verboten die Föhrer Navigationsschule. Die Tradition, zur See zu fahren, setzte sich aber in den Familien fort. Als Kapitän Niels Held, Jahrgang 1941, ein hünenhafter Friese aus Wrixum, mit 15 Jahren seine Laufbahn begann, wusste er von seinem Großonkel, der den legendären Fünfmastsegler „Preußen“ befehligte, und drei Onkeln, die als Kapitäne zur See fuhren.
„Schon als Kind war ich im Boot unterwegs“, erinnert er sich. Für einen Einsatz auf der Azoreninsel Flores, als er 32 griechischen Seeleuten das Leben rettete, erhielt Held die höchste Auszeichnung, die von der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ (DgzRS) verliehen wird. Er hatte jeden Seemann, der nach einer Strandung des Frachters in einer tosenden Brandung vor der Steilküste festsaß, einzeln gerettet. 32 Männer rettete er, 32 Mal unter Einsatz des eigenen Lebens. Nach solchen Details befragt, zeigt sich Held irritiert. „Was ist so Besonderes daran? Das hätten Sie doch auch so gemacht!“
Diese Bescheidenheit, dieses Bedürfnis, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen und solche, die sich wichtig nehmen, besonders unwichtig zu behandeln, ist überall auf der Insel spürbar. Auch nach vielen Besuchen fällt die Freundlichkeit der Bewohner immer wieder auf. Wer durch die Gassen von Nieblum schlendert, dem romantischsten Inseldorf, in dem ein Reetdachhaus gemütlicher ist als das nächste, wer mit einem Friesentee abends vor dem Kamin hockt, wenn der Wind um die Ecken pfeift, der möge sich auch an die Erlebnisse der Kapitäne von Föhr erinnern und ihre Geschichten lesen.
Föhr ist die größte und bevölkerungsreichste Insel Deutschlands ohne Landverbindung. Sie weist im Unterschied zu anderen Inseln, die vom Tourismus abhängig sind, eine Besonderheit auf. Auch Föhr lebt von den Gästen, die auf die Insel kommen, und im Herbst und Winter, wenn die Stürme über die Nordsee ziehen, geht es ruhiger zu. Doch die „Hauptstadt“ Wyk, ein Dorf von viereinhalbtausend Einwohnern ganz im Südosten der Insel, die im Sommer zur Kleinstadt mit 20.000 Bewohnern anwächst, ist das ganze Jahr über lebendig. Es gibt ein Einkaufszentrum, eine Fußgängerzone mit kleinen Läden und vielen Fischgeschäften, ein Krankenhaus und das Gefühl, dass rund ums Jahr etwas los ist. Szenen wie auf der Nachbarinsel Sylt, wo manche Orte in den Wintermonaten Geisterdörfern gleichen, in denen kein Licht mehr brennt, gibt es nicht.
Das Wappen von Wyk zeigt ein havariertes Segelschiff auf blauen Wellen vor rotem Hintergrund und unter einem hell leuchtenden Stern; auf dem Spruchband darunter steht: „Incertum quo fata ferunt“, was übersetzt bedeutet: „Ungewiss ist, wohin das Schicksal führt.“ Dieses Wappen weist also auf die Gefahren der Seefahrt hin – inklusive Mastbruch. Der Stern möge der Stadt als Orientierungspunkt den Weg weisen.
Als der dänische Dichter Hans Christian Andersen 1844 die Insel besuchte, schrieb er: „Ich habe jeden Tag gebadet, und ich muss sagen, es ist das unvergesslichste Wasser, in dem ich je gewesen bin.“ Was genau am Föhrer Wasser so besonders war, führte er nicht weiter aus, allerdings beschrieb er die lange Anreise. Wer damals nach Föhr wollte, war von Hamburg aus vier Tage lang unterwegs. Von der populären Insel Helgoland aus waren es zwei Tage, allerdings über See, was nicht allen bekam.
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