Mein Herz hämmert. Ich stehe vor Fräulein Tschurin. Sie reicht mir geistesabwesend ein paar Fingerspitzen. Es würgt mich in der Kehle vor Glück und Angst. Ich möchte ihr etwas sagen. Aber da raschekt schon ihre Schleppe wie eine Schlange über den Teppich. Sie stürmt auf Monsieur Jules Ruben zu, den spitzbärtigen Finanzmann mit dem roten Bändchen der Ehrenlegion auf der Rockklappe. Er soll ihr von den neuesten Pariser Wintermoden berichten! Ich bin für sie so interessant wie eine Fliege. Ich ziehe mich betrübt in einen Winkel zurück. Mein Vetter Etwein steht neben mir.
„Wer ist denn nur diese Irine Borissowna?“ frage ich erbittert, beinahe mit Tränen im Auge.
„Ein Rätsel!“
„Wie, Sascha?“
„Oder das Rätsel! Das grosse Rätsel von Petersburg. Über das zerbrechen sich ganz andere Leute als du den Kopf!“ sagt Alexander von Etwein. Er ist nu rein Linienleutnant, aber ein fixer Junge. Er hat in Petersburg die Augen offen gehalten. Er bewegt sich schom mit der Sicherheit eines Preobraschenzen oder Chevalier-Garden auf dem Parkett dieser Newa-Salons, das so glatt ist wie das Eis der Newa selber, und dem Ungewohnten so gefährlich, wie ihr braunes Moorwasser dem Durstigen.
„Sie ist zweiundzwanzig!“ sagt er halblaut zu mir, mit einem Blick auf die lachende Sphinz dort drüben. „Sie ist schön wie eine göttin. Sorgfältig im kaiserlichen Institut erzogen. Ehrenfräulein im Hause Romanow. Ihre Mutter eine Fürstin. Ihr Vater Hohe Exzellenz. Vor zwei Jahren kam er zu seiner heutigen Macht. Warum nutzt sie nicht die Zeit, wo sie auf der Höhe ist? Sie braucht nur zu wählen. Petersburg liegt zu ihren Füssen. Die Männer sind blind und toll. Du sahst den Unzurechnungsfähigen — den Erben von hundert Millionen —, den man vorhin wegbrachte. Nun — derlei erlebt sie jeden Tag. Und gähnt — oder lacht — oder wirft mit dem Pantoffel — je nach ihrer Stimmung . . .“
„Und was bedeutet das?“
„Das ist es ja: worauf wartet sie? Heute zittert Petersburg noch vor ihrem Vater. Morgen vielleicht schon ist er tot. Einmal, in kurzer Zeit, sicherlich! Dafür werden die Feinde des Staates schon sorgen! So gewiss jeder Stadthauptmann von Petersburg ermordet wird, so gewiss stirbt ein Mann in der Stellung Tschurins nicht in seinem Bett. Dann sind für die Tochter die Tage des Glanzes vorbei. Kümmert sie das? Nicht im gerungsten! Sie lacht . . . Sie macht sich über uns luftig — sie lebt gedankenlos hin wie der Sperling im Sommer . . .“
„Ist sie denn so einfältig?“
„Eine Tochter Tschurins und der alten Fürstin? Sie hat von beiden den Verstand geerbt. Sie ist wie geschaffen für das Leben in grossem Stil. Sie verschmäht es. Ihr Gerede vom Kloster ist auch nicht ernst. Da steckt etwas anderes dahinter, was niemand weiss. Da würde selbst der Scharfsinn der dritten Abteilung versagen!“
Die dritte Abteilung — Boris Tschurins furchtbares Werkzeug . . . Und doch geschehen auch da Dinge zwischen der Apraxin- und der Tschernitschew-Gasse, von denen selbst er nichts ahnt. Mein neuer Pass . . . Seine Tochter Ljuba, die Abtrünnige — die Verbrecherin — die in Peters burg herumläuft, und die Polozei sieht sie und kann sie nicht fassen . . .
Wieder steht das Bild des bleichen, schmächtigen, grünen Gymnasiasten vor mir. Ich merke jetzt erst, wie es mein Bleigewicht auf der Brust bei Tage, der Albdruck meiner Träume war. War . . . Denn jetzt geschieht etwas Merkwürdiges: die Umrisse Ljuba Tschurins werden vor meinem inneren Auge schattenhaft — sie schwinden, sie lösen sich in der strahlenden Gestalt ihrer Schwester Irina drüben auf, wie der Nebel vor der Sonna.
Dia schöne Irina steht dort zusammen mit meinem Vetter Sascha. Wie gesagt: das ist ein fixer Junge! Er kann mehr wie Brot essen! Er hat die hoffnungsvoller junger Mann in den Petersburger Sphären so nötig braucht wie das tägliche Brot. Er versteht es, sich geschmeidig an junge Frauen und alte Würdenträger heranzupirschen. Er erzählt Fräulein Tschurin etwas, das sie offenbar interessiert. Sie ist, gegen ihre Art, nicht zerstreut, sondern hört ihm gespannt zu.
Und während mein Blick ihr Bild trinkt, geht eine merkwürdige, aber mir ganz deutlich bewusste Wandlung in mir vor. Plötzlich, in einem Licht von oben, wird es mir klar: nicht ie mitternachtsstunde, in der Ljuba Tschurin mir meinen Pass, stahl, sondern diese Nachmittagsstunde, in der ich jetzt eben Irina Tschurin begegnet bin, ist der entscheidende Augenblick meines Daseins . . .
Und wie ich Irina aus meiner Ecke heraus mit den Augen des Verliebten liebkose — denn jetzt gebe ich mich gar keinem Zweifel mehr darüber hin, dass ich bis über die Ohren in sie verliebt bin — da ahne ich jetzt mehr, als dass ich es sehe, den schwachen Schatten einer Ähnlichkeit zwischen den Schwestern, obgleich Ljuba beinah unschön zu nennen ist und Irina ein strahlendes Meisterstück der Schöpfung. Sie ist einen halben Kopf grosser als die ältere, heller an Haar- und Augenfarbe, sie halt sich mit dem stolzen Anstand einer Königin, sie leuchtet in Jugend uns Lebenskraft und Lachen, ganz im Gegensatz zu dem verbissenen, fahlen, hageren Leidensgesicht der Terroristin. Wo ist da nur die Ähnlichkeit? Vielleicht, manchmal nur, in einem sonderbaren, fanatischen, tief aus dem Innern kommenden Aufflimmern in den Augen. Diesen unheimlichen Blick hat — so scheint mir — den Bruchteil einer Sekunde hindurch manchmal auch die schöne Irina. Es scheint mir wenigstens so. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein . . .
Fräulein Tschurin am anderen Ende des Zimmers drüben hat ihr Gespräch mit meinem Vetter Sascha beendet. Sie schaut durch den Raum. Sie geht zögernd ein paar Schritte. Man macht ihr Platz. Sie sucht irgend jemanden. Jedenfalls eine Dame. Denn die Männer winkt sie sich ja herbei. Die behandelt sie wie die Leibeigenen. Jetzt hat sie, was sie sucht, gefunden. Offenbar ganz in meiner Nähe. Sie kommt heran. Und nun ereignet sich das Unerwartete: sie tritt auf mich zu! Sie, die verwöhnte, hochmütige Irina Tschurin drückt mir freundlich die Hand und lächelt liebenswürdig und schaut mir freimütig ins Gesicht und versetzt:
„Seien Si emir nicht böse, Herr von Küster! Ich habe unglückseligerweise vorhin Ihren Namen nicht verstanden! Ich habe jetzt erst von dem nichtsnutzigen Sascha dort gehört, dass Sie der Sohn unserer lieben Exzellenz Küster sind, auf den Papa mit Recht so grosse Stücke halt! Seien Sie herzlich willkommen! Hoffentlich sehen wir Sie recht oft bei uns!“
„Zuviel der Gnade!“ stammle ich. Es fällt mir, weiss Gott, im Moment nichts Gescheiters ein. Ich fühle, wie alle Blicke auf mir ruhen. Mit Staunen. Mit Neid. Mit Neugier: Wer ist denn dieser Glückspilz? Ich gewinne für alle Anwesenden plötzlich an Interesse. Fräulein Tschurin mustert mich noch einmal wohlwollend, verabschiedet sich von mir mit einem freundschaftlichen Kopfnicken und tritt zu einer Gruppe ausländischer Diplomaten. Sie beginnt dort mit einem breitschulterigen, fischblütigen jungen Briten ein Gespräch in lachendem Englisch.
Und ich stehe und bin glücklich. Betäubt. Sascha Etwein, der Linienleutnant, murmelt neben mir:
„Du kannst stolz, sein, mein Vetterchen! So herablassend ist die schöne Hexe sonst nie! Du hast bei ihr einen grossen Stein im Brett!“
„Ich danke dir von Herzen, Sascha!“
„Es ist kein Grund! Ich musste doch von irgend etwas reden, als ich mich glücklich in ihre Nähe herangeschlängelt hatte, und da verfiel ich auf das erste beste dumme Zeug und sprach von dir!“
„Und das interessierte sie?“
„Offenbar. Ich begreife es ja auch nicht. Ich finde nichts Merkwürdiges an dir!“
„Wahrscheinlich war es nur eine ihrer Launen!“
„. . . oder sie will jemand anderen eifersüchtig machen!“ belehrt mich der weltkundige Vetter.
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