1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 „Er hat das Glück, vor Eurer Kaiserlichen Hoheit zu stehen!“ versetzt die Krasnopolska, in die Fügung des Schicksals ergeben, und weist in meine Ecke. Ich verbeuge mich tief und stumm. Der Grossfürst muster mich überrascht, mit gefurchter Stirn.
„Und was tust du hier?“
„Ich statte meinen Dank ab, wegen des Passes — meinen alleruntertänigsten Dank“, füge ich hastig hinzu.
Der Vetter des Zaren, Befehlshaber über Tausende von Gardetruppen, blickt mich immer noch düster unter seinen buschigen Augenbrauen an. Er sitzt da wie ein verkörpertes Stück Asien. Sein barscher Gesichtsausdruck wird milder. Er scheint sich wieder zu erinnern, dass ich der Sohn seines Leibarztes bin. Er nennt mich plötzlich „Sie“.
„Wie lange waren Sie im Ausland?“
„Zwei Jahre, Kaiserliche Hoheit. In fast ganz Europa.“
„Danken Sie Gott, dass Sie Europa sehen durften!“ Der Grossfürst geht plötzlich in ein leichteres, immer noch dunkel gefärbtes Französisch über. „Man ist bei uns in Russland erst Mensch, wenn man den Westen kennt!“
Bei ihm, dem treuesten Sohn der orthodoxen Kirche, der ragenden Säule der Moskauer Panslawisten, verblüfft mich dieses offenherzige Wort. Er fährt fort:
„Wir brauchen diese Bildung des Auslands. Auch ich besitze sie. Wir brauchen sie als Russen, um ihr zu widerstehen! Benutzen Sie diese Bildung, aber bringen Sie sie nicht nach Russland! Denn für Russland ist sie Gift.“
Ich stehe vor dem Grossfürsten. Neben seinem Sessel steht die Kransnopolska. Der finstere General räuspert sich.
„Ich sage Ihnen das als dem Sohn und, wie ich von Ihrem Vater höre, dem künftigen Gehilfen meines Arztes, der das Vertrauen, das sein Vater geniesst, sich erst verdienen muss!“
„Um dies Vertrauen zu rechtfertigen“, der Bass des Grossfürsten dröhnt aus tiefster Brust, „muss man echter Russe sein. Behalten Sie das Gift der Aufklärung für sich, wie ich es für mich behalte! Die russische Seele ist ein Ding für sich! Sie passt nicht zu Europa. Europa macht sie zweispältig und krank. Der wahre Feind Russlands ist jener mattherzige Teil der russischen Gesellschaft, der die Institutionen des Auslandes an Russland anlagen will. Diese Menschen ziehen die Pfeiler fort, auf denen Russland ruht. Sie züchten, ohne es zu wollen, jene Gottlosen, die vor neun Jahren meinen erhabenen Oheim ermordeten, die auch heute noch täglich die Krone und das Reich bedrohen und deren Ausrottung deswegen nicht gelungen ist, weil die verblendete russische Intelligenz ihnen den Nährboden bietet! Nie wird die Intelligenz Russland lenken können. Russland ist zu nahe der Natur. Nie werden die gemässigten Einrichtungen des Westens in Russland Bestand haben! Russland ist zu stark! Es braucht die starke Hand: Ein Gott! Ein Reich! Ein Zar! . . . Beherzigen Sie meine Worte! Schliessen Sie sich den Wohlgesinnten an, wenn Sie für Ihre Zukunft sorgen wollen!“
Der Grossfürst hat die Gnade, mir die Hand zu reichen. Ich ziehe mich mit dreimaliger, ehrerbietiger Verbeugung zurück und sehe noch, durch die sich schliessende Ausgangsportiere, wie die Krasnopolska ihn strahlend am Ohrläppchen beutelt. Und der finstere Machthaber schaut zärtlichfügsam zu ihr auf und lacht . . .
Ich trete aus dem koketten kleinen Palais der Krasnopolska. Ich atme in tiefen Zügen den kalten, herbstlichen Abendnebel der Newa, in dem schon etwas von Schnee und baldiger Winternähe wittert. Der Albdruck wegen des Passes ist von meiner Brust gewichen. Nun bin ich erst wieder Mensch. Nun fühle ich mich erst wieder daheim in diesem riesigen, feierlichen, alten Petersburg. Nun freue ich mich erst wirklich und aus ganzer Seele, wieder im Elternhaus zu sein. Ich fahre dorthin. Ich greife unterwegs alle Augenblicke nach der Brieftasche, die das Innenfutter meiner Weste wölbt, und lächle still vor mich hin . . .
Gott sei gelobt! Ich bin nicht mehr ein Mensch ohne Pass! Es kann wir niemand mehr etwas anhaben! Herausfordernd mustere ich die Stadtsoldaten an den Ecken der Prospekte, die vielen Beamten und Offiziere auf den schon abendlich dunklen Strassen. Überall Uniformen. Wer trägt in Russland keine Uniform? Selbst die Schüler . . . Der grüne Gymnasiast heute nacht . . . Eine Sekunde ist mir nicht wohl zumute — ach was . . . Fahr zu, Iswoschtschik! So — da sind wir . . .
Oben, im hellerleuchteten, blauen Salon geht Papa mit langen, schnellen Schritten auf und nieder. Es ist selten, dass man Papa so unbeschäftigt sieht. Auf seinem glattrasierten, verbindlichen Diplomatengesicht spielt unterdrückte Unruhe. Sien grossen, klugen, grauen Augen spähen, wenn er stehenbleibt, erwartungsvoll auf die Strasse hinunter. Ich trete auf den Fussspitzen an ihn heran und flüstere es ihm glückselig ins Ohr, so dass Mama, die an ihrem Schreibtisch sitzt, nichts hört:
„Papa — ich hab’ ihn! . . . Ich hab’ den Pass . . .“
„Könnte man nur den Kopf der Krasnopolska auf die Schultern unserer Machthaber setzen!“ sagt mein Vater in Gedanken, und schaut hinaus in die schwarze Nacht.
„Uff! Nun ist alles gut!“
„Es ist noch lange nicht alles gut!“ Papa überzeugt sich durch einen Blick, dass Mama ganz in ihre Papiere vertieft ist. Mama hat den grossen Weg von der estländischen Pastorentochter zu der deutsch-russischen Petersburger Exzellenz zurückgelegt. Sie trägt Würden und Bürden in Menge. Sie schichtet drüben am Tisch, leise vor sich hinmurmelnd, Zuschriften vom Vorstend der lutherischen Peterskirche drüben, vom deutschen Handwerkerverein „Zur Palme“, vom deutschen Wohltätigkeitsverein in der Twerskaja, vom deutschen Alexanderhospital. Mein Vater deutet auf die Michailoeskaja hinab.
„Überall auf der Strasse unten steht Geheimpolizei!“ sagt er. „Exzellenz Tschurin kommt in den nächsten Minuten zu mir zur Konsultation!“
„Das hat er doch schon oft getan!“
„Aber nicht, wenn irgendein Verbrecher mit dem Pass meines Sohnes sich durch die Ochrana unten in meine Wohnung einscheicht und ihm auflauert!“
Papa geht unruhig, alle Winkel musternd, durch die hellerleuchteten Zimmer. Er greift im Flur nervös in das Bündel der dort hängenden Pelze und Mäntel, als stände dahinter ein schwarzer Mann. Aber es ist nur Papas Schlittendecke aus Persianerfell. Er kehrt in die Wohnung zurück. Wie lehnen, Papa und ich, am geöffneten Fenster, durch das die kalte Nachtluft hereiweht. Wir schauen zusammen in die Finsternis hinaus. Um uns ist, in der tiefen Stille, jene unheimliche Atmosphäre, die Tschurin voraussendet — der lebensgefährliche Dunstkreis um solch einen russischen Würdenträger herum . . .
Nicht zu erraten, aus welcher Richtung Seine Hohe Exzellenz in die Michailowskaja einbiegen wird. Er haust eigentlich schon ausserhalb Petersburgs, am Ende der Welt, auf der Newaspitze der Apothekerinsel, beim Botanischen Garten, in einer freistehenden, rings von der Polizei bewachten Kronsvilla. Von da fährt er, jedesmal verschieden, über irgendwelche Brücken auf unvermuteten, weiten Umwegen in die Innenstadt. Er kann selbst von der Wilhelmsinsel herkommen, aus der Wiborgschen Vorstadt — wer weiss es . . .
Papa erzählt mir das halblaut, während wir lauschen und warten. Alles still. Nun jäh — durch das Schweigen der Nacht — in der Richtung von der Simeonbrücke her, ein kurzer, scharfer Knall. Gleich darauf noch einer. Wieder tiefe Ruhe . . .
„Man hat auf ihn geschossen!“ sagt mein Vater. In den dunklen Gruppen der Ochrana unten auf der Strasse ist eine erwartungsvolle Bewegung. Ein Zweispänner biegt in ruhigem Trab um die Ecke. Hält vor unserem Haus. Ein kleiner, dürftiger Herr in schwarzer Lammfellmütze und schwarzverschnürtem, pelzbesetztem, dunklem Mantel, steigt schnell aus und verschwindet, geräuschlos in seinen Galoschen, im Tor wie eine Ratte im Loch.
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