Die ganze Zeit wird französisch gesprochen. Stumm, kein Wort begreifend, steht der Diener und hält den verschnürten Pelzmantel zum Anziehen bereit. Der ofenheizer wartet mit der Lammfellmütze. Ein Zimmermädchen kniet mit den Galoschen am Boden. Der Oberdwornik hat die Flurtüre geöffnet. Auf den Treppenabsäten stehen die Hausknechte. Unten, im Flur und durch das offene Haustor bis auf den Bürgersteig hinaus, die Geheimpolizisten. Alles ist bereit, Seiner Hohen Exzellenz das geleit bis zum Wagen zu geben, hinter dem unauffällig, in einiger Entfernung, ein zweites Gefährt mit Gendarmerieoffizieren in Zivil wartet. Die Nacht draussen ist tief dunkel. Sturmstösse heulen vom fernen Finnischen Meer her, die Newa-Ufer entlang. Man hört noch hoer, mitten in der Stadt, ihr Stöhnen über das freie, riesige Marsfeld und den Michaelsgarten bis zu uns her. Unser Besucher zögert. Er fröstelt. Es ist, als ob er — der furchtbare Boris Tschurin — plötzlich vor der Nacht da draussen und ihren Geheimnissen bangte . . . Dann raft er sich zusammen.
„Wie denn? Wer will mir Rapport erstatten?“ fragt er barsch.
„Der Gendarmeriekapitän Gejkin, Eure Hohe Exzellenz!“ meldet zitternd der Diener. „Er wartet im Vorzimmer!“
Boris Tschurin trippelt hinein. Gleich darauf steckt er seinen fahlen Ziegenbart wieder durch den Türspalt und winkt uns, ihm zu folgen. Innen wendet er sich an einen jungen energischen Mann mit schwarzem Schnurrbart in Schirmmütze und hechtfarbenem Mantel.
„Wiederholen Sie den Herren Ihren Bericht!“ befiehlt er schroff. Der Offizier gehorcht mit einer sichtlichen Überwindung.
„Die Frauensperson, die gestern nacht im Gymnasiastenuniform die Wirballener Grenze überschritt und in Pskow aus dem Zug flüchtete, wurde heute abend gegen sieben Uhr hier in Petersburg, in Wassilij Ostrow, gesehen, wie sie in Frauenkleidern von Smolensker Friedhof her in einem Iswoschtschik den Kleinen Prospekt hinabfuhr. Ein Geheimpolizist erkannte sie beim Schein einer Strassenlaterne als die . . .“
„Heraus mit der Sprache . . .“ herrschte Seine Hohe Exzellenz kalt und trocken.
„Ich höre! . . . erkannte sia als die polizeilich gesuchte Senatorentochter Ljuba Borissowna Tschurin! Da er zu Fuss und keine Droschke in der Nähe war, konnte sie ihm entkommen!“
„Aber nicht mehr für lange!“ Exzellenz Tschurin reicht meinem Vater und mir seine Totenhand. „Die Entscheidung rückt mit Riesenschritten heran. Von allen Seiten ergänzen sich die Meldungen, dass man im Lager der Verbrecher zu einem seit Jahren nicht dagewesenen Schlag ausholt! Nun — man soll mich kennenlernen! Ich bin auf dem Posten! . . . Wie?“ Er schnaubt einen die Treppe hinaufgeeilten, bärtigen Menschen in Kleinbürgertracht an. „Die Schurken, die vorhin beim Justizminister auf mich schossen, sind entkommen? Immer entkommen sie euch! . . . Man wird euch noch in den Bergwerken verrecken lassen, ihr räudigen Schweine! Weg mit dir, du Sohn einer Hündin . . . Nun . . .“ Er lächelt höflich: „Gute Nacht, mein teurer Professor! Gute Nacht, mein junger Freund!“
Papa hat den hohen Besuch selbst hinab auf die Strasse bis zum Wagen geleitet. Er kommt zurück. Er steigt die Stufen nicht so elastisch wie sonst. Er ist bleich und erschüttert.
„Und sie hat deinen Pass . . .“ sagt er zu mir. Weiter nichts.
Und dann — sich verstört mit der schönen, weissen Hand über die Stirne streichend:
„ . . . oder vielmehr: sie hat ihn irgendeinem ihrer Genossen gegeben! Es gibt jetzt zwei Doktoren der Medizin Axel von Küster in Petersburg! Du und der andere!“
Ich kann nichts erwidern. Papa murmelt in Gedanken:
„Tschurin weiss offenbar noch nicht, dass seine Tochter deinen Pass gestohlen hat!“
„Nein.“
„Er weiss auch noch nicht, dass du, hinter seinem Rücken, einen neuen Pass hast!“
„Nein.“
„Aber er kann es jeden Augenblick erfahren. Gott weiss, was er dann tut. Bis dahin must du deine Stellung gegen ihn möglichst stärken!“
„Wie denn?“
„ . . . indem du in seinem Hause verkehrst! Bei einem jungen Mann, den man in Madame Tschurins berühmtem politischen Salon sah, muss alles Unangenehme vertuscht werden. Alles, nur kein Skandal!“
„Ja“, sagte ich matt.
„Tschurin hat dich ja Gott sei Dank selber eingeladen!“ schliesst mein Vater. „Also fahre unter allen Umständen morgen nachmittag hin und zeige dich bei Madame Tschurin!“
So fuhr ich tags darauf zur Teestunde, als ie Herbstsonne draussen in Kronstadt schon tief über Vater Johanns, des Wunderpopen, Kathedrale stand, hinaus zur Apothekerinsel, eine Werst nach der anderen, bis zu dem Botanischen Garten. Schon von weitem sah man an dessen Rand Boris Tschurins Dienstwohnung — ein grosses, niederes, weisses, ursprünglich wohl etwa für einen bescheidenen Inspektor im Etat der landwirtschaftlichen Domänen bestimmtes Gebäude. Viele Equipagen und Droschken hielten vor der Kronsvilla. Sie stand ganz frei, anscheinend jedem tückischen Anschlag ausgesetzt. Aber dann begriff man, dass diese Leere gerade ihr Schutz war. Niemand konnte unbemerkt nahen. Von nirgendsher drohte verdächtige Nachbarschaft. Die da und dort unauffällig scharwerkenden Gärtner kannten jedenfalls genau den Weg zur Fontanka drinnen in Petersburg und der Geheimpolizei im Ministerium des Innern . . .
Ich trete ein. Hier ist das echte Russland. Hier weht Bojarenluft. Die Herrin des Hauses stammt aus einem der vielen, im Moskauer Gouvernement begüterten Fürstengeschlechter. Bauernkerle von Lakaien reissen mir gewaltsam, zu dritt zugleich, Pelzmütze, Mantel und Galoschen vom Leibe — je vornehmer das haus, desto wilder die Dienstbeflissenheit — und schlagen die Flügeltüren wie Scheunentore vor mir auf. Eine Menge Räume. Ein Stimmengewirr. Eine Masse Menschen. Tschin in Uniformen und Zivil. Farbige Damenkleider. Ich kenne keine Seele. Ich mache am Eingang halt und schaue mich um . . .
. . .Wenn ich jetzt beim Niederschreiben dieser Erinnerungen meiner Jugendzeit auf meinen Lebenslauf zurückblicke, dann ist mir eines klar: die grossen Ereignisse unseres Daseins trippeln, wie der deutsche Weltweise sagt, lautlos, unbemerkt, auf Taubenfüssen in unsere Erdenbahn. Erst später, viel, viel später, erkennt man, dass es Schicksalsvögel waren, die da, glückbringend zur Rechten oder unheildrohend zur Linken, warnend oder wegweisend, vor uns aufflatterten . . .
Aber damals — an jenem Nachmittag, beim Betreten des Tschurinschen Salons, hatte ich im selben Augenblick schon das förmlich hellseherische Gefühl: Hier und heute erfüllt sich ein Stück deines Lebensschicksals . . .
Mitten in diesem Zimmer, gerade unter dem venezianischen Glasgeglitzer des Kronleuchters, stand ein junges Mädchen zu Anfang der Zwanzig, mehr als mittelhoch, viele der sie umdrängenden Herren mit ihrem wie eine glänzend braune Krone um den Kopf geschlungenen Haarkranz überragend. Sie trug ein Kostüm von goldgesticktem, grünlich schillerndem Pfaublau, mit Keulenärmeln, fusslangem Raffrock und der Wespentaille jener Tage. Aber selbst diese Einschnürung vermochte ihrem jungen, prachtvoll gewachsenen Körper seine Spannkraft nicht zu rauben. Schmalschultrig und merkwürdig hüftschlank, in ihrer spielenden Geschmeidigkeit an die Zigeunerinnen erinnernd, die im Sommer auf den Inseln singen und tanzen, bog sie sich wie eine Schlange im Kreuz nach rückwärts und kämpfte dabei hell lachend mit einem reisenhaften, russischen Windhund, der wie ein Mensch auf den Hinterbeinen vor ihr stand und seine Vorderpfoten schwer auf ihre Schultern stützte. Sie konnte die Last kaum tragen. Aber sie neckte das Ungetüm auch noch mit einem Stück fleischgefüllter Pirogge, das sie mit dem hochgereckten dünnen rechten Arm unerreichbar weit über ihm hielt. Der spitze Hechtrachen des Barsoi glühte ihr mit scharfem weissen Gebiss gerade in das schöne, kühn und lebhaft geformte Gesicht. Sie lachte halboffenen Mundes, mit ebenso weissen Zähnen dagegen. Sie tauchte spielerisch ihre glänzenden, unbestimmt braunen Augen in das gierige, grünliche Geflimmer seiner Pupillen. Die beiden rangen miteinander. Beides zwei Edelstücke der Schöpfung. Es war wie ein belebtes Gemälde aus Meisterhand, dessen Hintergrund durch den hellen Fensterrahmen den möwenüberflatterte, graue, windige Wellenschlag der Newa und der weite, graubleiche, russische Nebelhimmel bildete.
Читать дальше