„Und wie wollen Sie die französische Bankwelt hindern, kein Geld mehr nach Russland zu schicken?“ fragt er. Vater Damaskin schweigt milde. Es ist, als dächte er über das Problem nach, in Russland die Hebräer zu hetzen, ohne dass in Frankreich die Rothschilds etwas davon merken.
Die Dame des Hauses beachtet mich nicht mehr. Ein graubärtiger Gardegeneral erzählt ihr mit tiefer Stimme von einer Sitzung der slawischen Wohltätigkeitsgesellschaft, der mächtigen Kampforganisation des Panslawismus. Sie hört ihm nicht mehr zu. Sie beginnt nervös zu zittern.
„Aymerich spurt seine Ätherwellen!“ fluster sie atemlos.
Am Fenster sitzt mit geschlossenen Augen, in einem aufgeregten Kreis von Damen und Herren, Jan Aymerich, ein stämmiger Vlame, dessen rosiges Gambrinusgesicht fast völlig unter goldblondem Haupthaar un Vollbart verschwimmt. Er ist, scheint es, der augenblickliche Modeprophet Petersburgs. Dessen Salons wimmeln ja von jeher von heiligen Idioten, ekstatischen Nonnen, tibetanischen Zauberern, spiritistischen amerikanischen Zahnärzten. Ein verlebter, wundervoll gekleideter junger Mann wendet sich empört von dem Hellseher ab.
„Und mit diesem Humbug will man Russland retten!“ ruft er. „Es wird erst besser, wenn der Zar mich zum Minister macht!“
„Ausgesprochener Grössenwahn!“ murmelt der Gardegeneral zu einem langbärtigen, bebrillten, allrussischen Professor. „Er leidet dank seinen Ausschweifungen an Gehirnerweichung!“
„Ist dieser Woinitsch denn noch im Staatsdienst?“
„Jetzt eben als Gehilfe in das Ministerium des öffentlichen Unterrichts berufen! Ich bitte Sie: ein Mensch mit diesem Selbstbewusstsein . . . Sieh da, Erlaucht . . .“ Der General der slawischen Wohltätigkeit erhebt sich ehrfurchtsvoll: „Wir sahen uns zuletzt auf dem allrussischen Kongress in Moskau. Sie sind ein seltener Gast in Petersburg!“
Der neue Besucher ist ein Mann im besten Alter, von sehr breitschultrigem, plumpem und untersetztem Wuchs und mit der hochfahrenden Sorglosigkeit eines grossen Herrn vom Lande gekleidet. Der Ansatz eines Höckers entstellt seine Gestalt. Sein Gesicht ist gross, rund wie der Mond, bartlos, mit schwammigen, aber geistig regen Zügen. Er drückt jedem von uns im Vorbeigehen, ohne weitere Vorstellung, schweigend die Hand und begibt sich bedächtigen Schritts auf die alte Tschurin zu. Die vergisst sofort ihren Geisterseher am Fenster. Sie lüftet ihren dicken, kurzen Körper vom Kanapee und eilt erfreut dem hohen Gast entgegen. Er küsst ihr nicht die Hand. Er schüttelt ihre Rechte nur kräftig und versetzt dabei mit einer dumpfen und markigen Stimme:
„In der Tat — ich bin es, Marina Georgiewna! Zehn Jahre oder länger war ich nicht in Petersbrug! Ich verabscheue diese Beamtenstadt. Nun aber führten mich Verhandlungen mit dem Ingenieurinstitut der Verkehrswege aus Moskau auf einen Tag hierher. Man baut, ohne mich zu fragen, eine Bahnlinie, die auf mehr als hundert Werst meine Güter durchschneiden soll . . .“
„Nun — und bei dieser Gelegenheit . . .“, er nimmt breit und schwer neben der alten Tschurin Platz, „überbringe ich die Grüsse Ihrer Schwester Jelena, meiner Tante!“
„Wer ist dieser Fürst?“ frage ich. Der panslawistische Professor belächelt meine Unerfahrenheit.
„Haben Sie niemals von den berühmten Kunstschätzen in Andrjuschinow im Moskauer Kreis gehört? Doch? Nun — dort sehen Sie den Sammler un Eigentümer, Fürsten Chowansky!“
„Er ist wohl sehr reich?“
„Einer unserer grössten Grundbesitzer. Sein kleines, körperliches Gebrechen — Sie sehen es ja — hat ihn menschenscheu gemacht. Auch in Moskau trifft man ihn selten. Er lebt völlig zurückgezogen, nur mit seinen Sammlungen beschäftigt, auf seinen Gütern!“
Ich fühle, dass ich jetzt hier, im Allerheiligsten der Villa Tschurin, überflüssig bin. Ich trete wieder in den Nebenraum. Es zieht mich unwiderstehlich dort hin. Dort ist dies wunderschöne Mädchen. Gottlob — sie ist noch da. Sie sitzt in einem Schaukelstuhl und wippt träumerisch auf und nieder, eine Zigarette in der Hand. Um sie drängen sich, wie die Fliegen um den Honig, ihre Anbeter in Uniformen und modischen langen Schossröcken. Keiner gönnt dem anderen den Platz in der Nähe des leise im Auf- und Abschwung knarrenden Schaukelstuhls. Keine dieser Motten weicht aus Irinas Lichtkreis. Aber es gibt auch trübgestimmte Seelen, die still verzichtet haben und sich auf französisch empfehlen. Während sie gehen, kommen andere. Es ist ein Aus und Ein im Salon Tschurin wie in einem Taubenschlag. Auch der Sohn des Hauses drückt abschiednehmend rechts und links die Hände. Er hat in Petersburg eine wichtige Sitzung der „Heiligen Schar“. Sie wird mit ihren Leibern den Zaren auf seiner demnächstigen Reise nach der Krim decken. Platon Tschurin eilt aus dem Gemach. Seine Sprache, seine Bewegungen sind stürmisch. Draussen rast eine Troika mit dem panslawistischen Kampfhahn der fernen Isaak-Kathedrale zu.
In der kurzen Stille nach seinem Weggang tritt plötzlich ein gut aussehender junger Mann mit den melancholischen, länglichen Zügen eines Kleinrussen vor das Mädchen im Schaukelstuhl hin und versetzt ganz laut und traurig, mit stiller Verzweiflung in der Stimme:
„Warum wollen Sie mich nicht heiraten, Irina Borissowna?“
Sie antwortet nicht. Sie schaukelt weiter und sieht den Frager über den Rauch der Papyros hinweg seelenruhig an. Jetzt weiss ich, was ich die ganze Zeit schon hoffte: Dies Mädchen ist die Tochter des Hauses, Irina Tschurin, das ehemalige Hoffräulein der greisens Grossfürstin Marija Petrowna. Der alte Tschurin heisst der Vater der Lüge. Aber er hat gestern in Gatschina wahrlich nicht zuviel von der Schönheit seiner Jüngsten gesagt. Der junge Mann vor ihr stammelt zerknirscht — er weiss in seiner Verliebtheit offenbar kaum mehr, was er redet.
„Einmal müssen Sie doch heiraten!“
„Weshalb denn?“ Irina Tschurin hebt neugierig die braunen Augen und streift dei Asche ihrer Zigarette ab.
„Ich bin vielleicht der reichste Erbe Russlands“, stottert der verstörte junge Mann weiter. „Unsere Kiewer Zuckerfabriken . . . Wenn schon Ihr Herz nicht spricht — warum lassen Sie den Verstand nicht wählen? Warum werfen Sie mich zu den übrigen?“
„Du bist da in einer sehr guten und zahlreichen Gesellschaft“, sagt einer seiner Freunde, und führt den vor Liebeskummer unzurechnungsfähigen jungen Krösus aus dem Zimmer.
Ein anderer lacht: „Man wollte schon in Petersburg einen Klub der abgewiesenen Freier gründen. Aber man fand keine Räume, die gross genug waren!“
Irina Borissowna tat, als hörte sie es nicht. Der Mönchpriester Damaskin beugt sich von hinten über ihren Schaukelstuhl. Sie wendet ihren schönen Kopf über die Schulter zu ihm empor. Die beiden unterhalten sich eifrig un leise, wie alte Freunde. Dann erklärt Irina mit einem Blick in die Runde:
„Ich bereite bei Vater Kyrill meinen Eintritt in ein Nonnenkloster am Weissen Meer vor. Ich verschiebe es von Monat zu Monat. Es ist feige von mir, mich Gott zu entziehen. Aber bald bin ich entschlossen!“
Und mit hellerer Stimme — plötzlich ein paar unheimliche, düstere Querfalten auf der niederen, weissen Stirn:
„Neulich schon, als ich Jan Aymerich da drinnen in seinem Helbschlaf die Hand auf die Stirn legte, hat er mir Scgreckliches für die Zukunft prophezeit! Was — wollte er durchaus nicht sagen!“
„Wahrscheinlich war der Spitzbube betrunken“, brummt neben mir ein Infanterist, der nicht zur Garde gehört, in dies vornehme Haus? Ich erkenne meinen Vetter Sascha von Etwein vom Revaler Armeekorps, von dem ein Teil auch in Petersburg steht. Er drückt mir die Hand und erläutert.
„Ich habe Gott sei Dank Verbindungen! Ich betreibe meinen Austritt aus der Armee und meine Einstellung in das Gardekorps. Hier, in diesen Räumen, werde ich es erreichen! Wie? — Du kennst Irine Borissowna noch nicht? Was hast du im Westen für Formen gelernt? Komm — ich werde dich vorstellen!“
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