»Wissen Sie«, sagte MacMahon, »in den Tagen der Fenier, in den Tagen des Aufstandes, war alles ganz anders. Damals bestimmten die Ardmors alles, sie und die kleineren Gutsbesitzer. Ihnen gehörte der Boden, so kam uns das damals vor, und alles, was darauf wuchs oder darüber flog. Damit waren wir aufgewachsen, wie vor uns unsere Eltern und Großeltern. Es war eine andere Welt.«
»Aber die Fenier haben nichts geändert«, erwiderte Prentiss. »Ein paar Kasernen und Stationen der Küstenwache wurden für ein paar Stunden eingenommen, es gab ein paar Handgemenge an Straßenkreuzungen. Und danach Prozesse und englische Gefängnisse.«
MacMahon lachte. »Nein, wir haben nichts verändert. Der Landkrieg hat die Änderungen gebracht, der Landkrieg und Parnell und die Boykottkampagnen. Aber es ist niemals leicht zu sagen, wo etwas anfängt. Bei Gott, Mr. Prentiss, einige Wochen lang haben wir sie trotz allem in Panik versetzt. Die Gutsbesitzer aus Limerick packten ihre Familien und ihr Erbsilber ein und brachten sich in Killarney in Sicherheit. Man kann nie wissen.«
»Aber jetzt sieht doch alles sicher fast so aus wie damals«, sagte Patrick Prentiss aus Dublin und Clongowes Wood, Oxford und London, ein Jahr in Paris, halb neidisch, wenn auch nur für den Moment, auf ein Leben, das unter dem einen Himmel gelebt worden war, in dem die Schatten des frühen Abends immer auf dieselben Hügel, Ecken von Scheunen und Läden, auf den Staub vertrauter Straßen, auf Generationen von Weißdorn gefallen waren.
»Das stimmt allerdings«, erwiderte MacMahon und fügte trocken hinzu, »aus dieser Entfernung.«
»Kilpeder selber«, hatte der Muirhead erzählt, der in dieser Hinsicht strenge Maßstäbe anlegte, »ist ein typischer Marktflekken des Südwesters, der dem Sommerfrischler wenig Interessantes zu bieten hat. Die Markthalle aus dem 18. Jahrhundert, elegant und nützlich zugleich, wird in der ›Klage um Art O’Leary‹ erwähnt, einem Gedicht in gälischer Sprache, das an eine lokale Tragödie des Jahres 1773 erinnert. Es wird Eibhlín Dubh Ní Chonaill zugeschrieben, O’Learys Witwe. Die große, imposante römisch-katholische Kirche wurde mit vielen neogotischen Verzierungen nach einem Entwurf von Pugin errichtet. Im Jahre 1867 kam es in Kilpeder zu einem Scharmützel zwischen den Krontruppen und den rebellischen Feniern, und in jüngerer Zeit hat man schwerwiegende politische und agrarische Unruhe durchmachen müssen. Inzwischen. ist der Ort wieder in seinen verschlafenen Zustand zurückgefallen. Reisende aus Cork oder Mallow können sich der beschwerlichen, jedoch pittoresken Straße bedienen, die durch die wilden Derrynasaggarts nach Kerry führt, und von dort entlang dem lieblichen kleinen Fluß Flesk zur Seenplatte von Killarney weiterfahren.«
»Da hinten«, sagte MacMahon und wandte sich von der Domäne ab, »im Dorf Turrist gibt es ein Hungergrab. Vielleicht möchten Sie es eines Tages besuchen. Das könnte Ihnen historische Perspektive vermitteln, wenn das der richtige Ausdruck ist.«
»Ja«, erwiderte Prentiss und überlegte sich flüchtig, wie der Muirhead diese Information wohl serviert hätte. Der Ausdruck selber, obwohl dünn und kühl, hatte für ihn keinen Widerhall.
Aber MacMahon konnte ein eingesunkenes Feld sehen, umgeben von einem niedrigen Zaun aus rostigem Eisen, das Gras hoch und ungemäht. Vielleicht hatte alles dort angefangen, dachte MacMahon, im Hungergrab. Wie viele lagen dort, zweihundert, drei? Vierhundert bestimmt im Massengrab in Skibbereen, auf der Anhöhe über dem Fluß. Unbesucht, ohne Gedenktafel, eine begrabene Schande.
Prentiss hatte seine Lesebrille auf die Stirn geschoben. Nun nahm er sie ab und klappte die Bügel um, die Sonne fing sich für einen Moment in den Gläsern, Leuchtsignale flackerten zu den Bergen, dem Grab, der Domäne, der tiefliegenden Stadt mit ihren Kirchtürmen hinüber. MacMahon, der bereits beschlossen hatte, ihn leiden zu mögen, lächelte. Ein höflicher junger Mann, ausgesandt von der großen Welt der Bücher und der Gelehrsamkeit, den von Büchern überquellenden Bibliotheken von Oxford und London. Ich bin ein Krümel in der Geschichte geworden, dachte er zufrieden.
Sie verabredeten, sich jeden Tag zu treffen, hier, oder bei Gelegenheit zum Essen in den Kilpeder Arms, und Prentiss dankte ihm noch einmal, als sie zur Straße, zu Prentiss’ Einspänner zurückgingen.
Aber MacMahon, die Hand auf das offene Tor gelegt, aufrecht, ohne den gekrümmten Rücken der Schulmeister, schüttelte den Kopf.
»Sie wissen sehr gut, Mr. Prentiss, daß es für einen alten Mann eher eine Freude ist als eine Zumutung, wenn er gebeten wird, sich zu erinnern. Das Problem ist, daß ich mich an allzu vieles erinnere, an Dinge, die für Sie von keinerlei Interesse sein könnten. Von keinerlei Interesse.«
»Ich weiß nicht, was für mich von Interesse ist«, erwiderte Prentiss und wechselte plötzlich in einen Tonfall, den MacMahon von ihm noch nicht gehört hatte. »Weder in der Geschichte noch irgendwo anders.«
»So geht es uns allen«, meinte MacMahon und versuchte, einen entsprechenden Ton zu finden.
Sie schüttelten einander die Hände, förmlich, zwei Historiker in Klausur, auf freiem Feld im Schatten der Berge.
Unerwartet, dachte Prentiss, als der Einspänner munter nach Kilpeder zurückrollte. Was hatte er erwartet, als er im Zug von Dublin nach Mallow gefahren war, vorbei an Feldern und Dörfern, an Herden, die vor frühbelaubten Bäumen vor sich hindösten, während auf Hügeln in der Ferne die Silhouetten von zerstörten Bergfrieden vorüberzogen, von allem getrennt durch Bewegung, grünen Plüsch, fleckiges Holz, durch ein verschmutztes Fenster? Einen Schulmeister vom Lande, dessen Gedanken und Vorstellungen notdürftig angefüllt waren von der Halb-Geschichte der Christian Brothers, von patriotischen Schlagwörtern, von Prahlereien über die Tage, als er für Irland zum Gewehr gegriffen hatte. MacMahon hatte er jedenfalls nicht erwartet, die haselnußbraunen Augen wachsam und ironisch hinter der dicken Brille, während Unausgesprochenes im leichten Gespinst seiner Höflichkeiten zitterte. Jetzt sah er MacMahon vor seiner von der Mittagssonne beschienenen Bücherwand. Durch die Geographie von MacMahons Leben, über das er, wie er nun wußte, nichts wußte, fuhr er zurück zu den Geschäften von Kilpeder, dem Marktplatz, der Polizeiwache, wo in den frühen Morgenstunden eines Märztages vor fast vierzig Jahren einige Dutzend junger Burschen in Friesmänteln, bewaffnet mit gestohlenen Gewehren, sich durch eine stille, von fremdem Schnee erfüllte Straße den von Falken bewachten Toren einer Domäne genähert hatten, hinter denen, tief verborgen hinter Buchen und schweren Eichen, ein Teil dessen auf ihn wartete, was er noch nicht wußte. Die Räder seines Einspänners tickten wie eine Uhr, als sie so dahinrollten.
[Hugh MacMahon]
Wenn ich wüßte, wo ich anfangen soll, dann wäre ich vielleicht ein gelehrter Historiker wie der junge Mr. Prentiss, dessen Einspänner ich vom Tor aus nachsah, bis er schließlich außer Sichtweite gerollt war und mich in meiner Welt allein und einsam zurückließ. Und doch muß ich einfach glauben, Logik und Geschichte zum Trotz, daß es für mich an jenem Winterabend Ende Januar 1867 anfing, als zur Teezeit Ned Nolan zum ersten Mal an die Tür unseres Hauses in der Chapel Street klopfte.
Die Straße lag bereits im Dunkeln, so kurz sind für uns im Winter von Munster die Tage, und hinter ihm ragten die beiden Türme von St. Jarlath unten an der Straße in den Himmel. Er war ein dunkler Bursche, an dem nur seine Größe und sein schwerknochiger Körperbau unsere Verwandtschaft andeuteten, und doch wußte ich sofort, wer er war. Wir erwarteten ihn schon seit Wochen, und Fremde kamen selten nach Kilpeder und nie in unser Haus, abgesehen von den jährlichen Besuchen des Schulinspektors. Ich sehe ihn noch vor mir, ein langes Gesicht unter dem weichen schwarzen Hut, ein langes Kinn und hohe, grobe Wangenknochen wie die eines Indianers, tiefliegende Augen, so dunkel wie sein Hut, und lange, dünne Lippen. Er hielt seinen Koffer am Griff, einen riesigen, ausgebeulten Koffer, der aus einem weichen Material hergestellt war. »Ich bin dein Vetter Ned Nolan«, sagte er. »Ich bin aus Amerika zurück.« Als Willkommensgruß packte ich seinen Arm mit meinen beiden Händen und zog ihn ins Haus. Die Straße hinter ihm war wie ausgestorben.
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