»Ich lebe nun schon seit fünf Jahren hier«, sagte er, »und nicht ein Mal bin ich dessen müde gewesen.«
»Hier gibt es sicher nicht viele Nachbarn«, meinte Prentiss.
»Stimmt«, antwortete MacMahon. »Aber weiter unten an der Straße wohnt eine Familie namens Nagle. Ihr Haus ist hinter der Kurve versteckt, aber ich kann in weniger als einer Stunde hingehen. Ich habe den Vater und danach die Jungen unterrichtet.«
»Sie müssen halb Kilpeder Buchstaben und Zahlen beigebracht haben«, sagte Prentiss. »Das muß doch eine große Befriedigung für Sie sein.«
»Das letzte Glied einer Kette«, erwiderte MacMahon. »Hier hat es immer einen Schulmeister gegeben. Früher waren es Hekkenschulmeister, ein oder zwei davon waren Dichter. Vor der großen Hungersnot war diese Gegend hier, bis zur Grenze, rein gälischsprachig, und man kann es immer noch hören. Bei all Ihrem Interesse für Kanonen und Trommeln, Trommeln und Kanonen, Mr. Prentiss, wissen Sie, daß dieser Teil von Munster einst für seine Dichtkunst berühmt war?«
»Nein«, antwortete Prentiss, etwas müde vielleicht, denn nachdem MacMahon ihn kurz angeblickt hatte, sagte er freundlich: »So war es. Kommen Sie, von hier oben hat man einen schönen Blick.«
Gemeinsam überquerten sie die Straße und gelangten durch das Gatter im niedrigen Zaun aufs freie Feld. Bei seiner Ankunft war Prentiss nicht aufgefallen, daß er auf höher gelegenes Gelände zuhielt, aber nun sah er, daß sie auf einer Anhöhe standen, die gute Sicht über ansteigende Felder bis zu den Vorhügeln bot. Dahinter glitzerten die Berge in der Mittagssonne, Sonnenlicht brach sich auf Felsen.
»Da hinten«, sagte MacMahon, und Prentiss wandte seinen Kopf den anderen, entfernteren Bergen zu, den Derrynasaggarts.
»Ein dicht bevölkertes Land«, erklärte MacMahon. »Vor Ihrer Zeit, vor meiner. Vor der Hungersnot. West Cork hat in jenen Jahren schwer gelitten, aber das wissen Sie natürlich. Skibbereen, Schull, Crosshaven, die Städte an der Küste; es war eine grauenhafte Zeit für sie. Hier war es nicht ganz so schlimm, aber es war doch schlimm genug. Es ist seltsam mit der Hungersnot, nie wird direkt darüber gesprochen. Und das war fast von Anfang an so. Nur wenige Jahre danach, als ich ein Kind war, sprach die Landbevölkerung nur von den »bösen Zeiten«, dann wurde rasch das Thema gewechselt. Aber die Hungersnot ist durch diese Täler, die wir jetzt sehen, und über diese Berge gezogen. Und sie hat die Hälfte der Menschen mitgenommen, in die Hungergräber oder über den Atlantik.«
Prentiss sah Felder, von Steinen eingerahmt, das intensive Grün des Sommers, Vieh, Hütten. Ein Mann ging langsam über eine entfernte Boreen d, blieb stehen.
»Es hat mir große Freude gemacht«, sagte MacMahon, »alles, was möglich war, über das Leben an diesen Orten herauszufinden. Wunderschöne Gedichte sind dort geschrieben worden, und einige der Leute konnten sie auswendig. Ich habe sie in einem dicken Kassenbuch notiert, und ich habe auch Angaben über die Leute, die sie geschrieben haben. Das ist jetzt alles vorbei.« Prentiss, der grauen Fels, grünes Gras überblickte, versuchte ohne Erfolg, mit den Augen von MacMahons Phantasie zu sehen. MacMahons Geschichte war unsichtbar, hatte keine Narbe auf dem Land hinterlassen. Irgendwo vielleicht, versteckt von den Vorhügeln, gab es eine Siedlung von leeren Hütten, dachlos, Nesseln auf den herabgefallenen Steinen.
»Die Hungersnot war das Ende für das Volk«, sagte MacMahon. »Aber schon damals war die Dichtkunst nur noch ein Rinnsal. Wissen Sie, was der Dichtkunst den Todesstoß versetzt hat, Mr. Prentiss? Wir waren das, die Schulmeister von Kilpeder und den anderen Orten, mit unseren Buchstaben und Zahlen. Wir har ben ihnen Englisch gegeben, und wir haben das Gälische aus ihnen herausgeprügelt. Heute finden Sie in diesen Dörfern junge Burschen, die sich ihrer Großeltern schämen, die kein Englisch oder nur sehr schlechtes Englisch sprechen. Und dann komme ich und bewahre die Dichtkunst als Kuriosität auf. Wie die alten Entdecker, die ein oder zwei Indianerhäuptlinge mit nach London brachten, mit Federkronen und bemalten Gesichtern.«
»Ich fürchte, ich weiß nichts von dieser Sprache«, sagte Prentiss. »Kein einziges Wort.«
»Nun ja«, erwiderte MacMahon. »Im Grunde entgeht Ihnen da wohl nicht viel. Es gehört ja auch nicht zu Ihrem Thema. Die Burschen von 67 sprachen alle Englisch. Die Gälischsprecher, draußen in den Hügeln, lebten in einer anderen Welt als wir. Uns erschienen sie wie wilde Geschöpfe, wenn sie in die Stadt kamen, und das lag nicht nur an ihrer Sprache. Die Männer sahen alle wild und fremd aus, und die Frauen waren scheu wie Hasen.«
Aber Prentiss hatte das beunruhigende Gefühl, schwach, bohrend, daß es durchaus zu seinem Thema gehörte und daß er niemals etwas darüber wissen würde.
»Von hier aus«, fuhr MacMahon fort, »können Sie fast bis Clonbrony Wood sehen, dem großen Thema Ihrer Forschungen.« Das Wort »Forschungen« bewegte sich vage zwischen den Anführungszeichen dessen, was Prentiss langsam als MacMahons Ironie erkannte, hilfsbereit, amüsiert, die Ironie eines Tutors.
MacMahon legte ihm eine Hand auf die Schulter und drehte ihn nach Süden. Die Gehöfte waren größer, und die Landschaft zog sich sanfter, ebener zum Fluß hin.
»Da hinten«, sagte MacMahon, »da liegt Ihr Clonbrony. Damals war der Wald dichter und doppelt so groß. Ardmor verkauft das Holz.«
Ein Schatten zwischen hellgrünen Feldern.
»Von hier aus können wir auch Ardmor Castle sehen, nicht wahr?«
»Sicher können wir das«, antwortete MacMahon.
Kilpeder war eine Ansammlung von Dächern. Dahinter lag Ardmor wie ein verkrustetes Juwel – Gärten, See, das Haus selber, auf einem niedrigen Hügel, mit Blick aufs Wasser.
»Von der ursprünglichen Burg«, hatte der Muirhead ihm mitgeteilt, »ist nur noch die efeubewachsene Ruine des Bergfrieds übrig. Das heutige Schloß, erbaut 1720 nach einem Entwurf von Richard Cassels, ist ein schönes Gebäude im palladianischen Stil, dessen prachtvolle Fassade aus ungewöhnlich hohen und doch wohlproportionierten Fenstern einen unvergleichlichen Blick auf die stürmischen Derrynasaggart-Hügel bietet. Auch die berühmten Gärten wurden angeblich nach Cassels’ Entwurf angelegt, aber sie wurden durch den dritten Grafen nach romantischer Manier erweitert und verändert. Das Gelände enthält einen künstlich angelegten See und Wasserfall, von der Sullane gespeist, Scheunen und Melkhäuser im Schweizer Zierstil mit Stroh gedeckt, eine Grotte, Kräuter- und Irrgarten und ein Rotwildrudel. Ihre Anlage ist jedoch weder willkürlich noch gedrängt, so weiträumig ist die Domäne, und die Wirkung ist höchst angenehm. Schloß Ardmor ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich, aber das Gelände kann nach Absprache mit dem Gutsverwalter besichtigt werden.«
»Bis zu den Mauern der Domäne«, sagte MacMahon, und Prentiss sah ihn verwirrt an.
»Alles ist verkauft worden, weggeknabbert, mit Ausnahme der direkt bewirtschafteten Farmen und einer Handvoll von Gehöften mit langen Pachtzeiten. Und das neue Gesetz wird die auch noch erledigen, nehme ich an. Das Land der Ardmors liegt jetzt innerhalb dieser Mauern. Aber es ist schön, nicht wahr, wenn der See sich kräuselt und sich die Sonne in den Fenstern fängt.«
»Wirklich schön«, stimmte Prentiss zu, aber es war zu weit weg, und deshalb konnte er nicht mehr sagen. Seine Empfänglichkeit für diese großartigen Häuser stammte von einer sanfteren Insel voller kleiner Hügel und wogender Wiesen. Neben Ardmor Castle breitete sich Kilpeders niedriges Straßengewirr aus, durchbrochen von den Kirchtürmen an beiden Seiten des Ortes. Dahinter zogen sich die Felder zu dem Hügel hin, auf dem er jetzt mit MacMahon stand. Und hinter diesem Hügel, in geringer Entfernung, erhoben sich die Vorläufer jener Hügel, die der Muirhead zu recht als »stürmisch« bezeichnet hatte. Zwischen Hügeln und juwelenbesetzter Domäne schien es keine richtigen Verbindungen von Gefühl oder Landschaft zu geben.
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