»Das war anständig von ihm«, sagte ich. »Er ist ein anständiger Mann, weißt du.«
Aber wieder zuckte Vincent die Schultern, noch immer mit diesem Hauch von Bitterkeit. »Viele bei der Polizei sind anständig genug, wenn man ihnen das erlaubt. Aber es kam ihm vor allem darauf an, sich mit Tully und Sohn weiterhin gutzustellen. Die Ardmors glauben vielleicht, daß ihnen die Baronie gehört, die Ardmors und der übrige Adel, mit ihren großen Häusern und ihrer Jagd und ihren Hundemeuten, wenn sie schreiend und scharlachrot gekleidet durch die Felder reiten, wie John Peel. Aber bald werden sie wie die Glasur auf einem Hochzeitskuchen weggekratzt, und darunter wirst du Tully und Sohn finden.«
Als er sprach, konnte ich die beiden sehen, Dennis Tully und Cornelius Honan, wie sie ihre Köpfe zusammensteckten, während Honans hoher Helm wie um Entschuldigung bittend neben seinen Stiefeln stand. Er versuchte sicher ab und zu, mit dem Finger seinen mit Leder und Roßhaar versteiften Kragen zu lockern. In seiner Hand hielt er den Bericht aus Dublin, Botschaft eines weit entfernten Empires, dessen Befehle er befolgte. Beim Reden stieß er immer wieder mit dem Finger gegen den Bericht. »Nichts Böses in dem Jungen, Tully. Gar nichts Böses, sicher nicht. Heutzutage sind die Jungen leicht ein bißchen wild.« Tully nickte und musterte Honan mit den milden, klaren Augen eines Falschspielers. Aber hinter den milden Augen lagen Zorn über seinen Sohn und Angst um ihn.
»Und dann hat er mich ausgehorcht, Hugh«, sagte Vincent. »Das hat er schon oft gemacht, in anderen Zusammenhängen. Ich weiß, was du von ihm denkst, ein Gombeen i-Mann ohne mehr Gewissen als ein Dachs, aber er ist auch so gerissen wie ein Dachs, und sein Vater, der Gründer, war auch schon so. Und der allererste Tully, mit seinem Bauchladen mit Hökerwaren, Nähgarn und Fingerhüten für die Frauen.« Er hätte auch über eine Pharaonendynastie sprechen können. »Er hätte mich fast zu fassen bekommen, aber ich habe mich rechtzeitig retten können. Ich bin selber ein Tully. Aber eigentlich ist das so nicht richtig. Er hat einfach das ausgesprochen, was er für die Wahrheit hält.«
»Was ich weiß, Vincent«, hatte Tully ihm gesagt, »ist folgendes.« Beim Reden hatte er einen Finger nach dem anderen berührt, zuerst den Kleinen, wie Vincent es im Laden oft bei ihm gesehen hatte, wenn er einem Farmer eine Rechnung erklärte. »Niemand in diesem Land will Ärger – die Leute wollen keinen Ärger, die Kirche nicht und der Adel auch nicht. Wir haben alle viel zuviel Ärger miterlebt. Niemand außer den Unruhestiftern will Ärger, und den werden sie über sich selber bringen. Überall auf dieser Insel steht Polizei, und das sind sehr fähige und gut bewaffnete Männer, sicher und geborgen in ihren starken Wachen, wie in der von Kilpeder. Und wenn die Polizei nicht ausreicht, dann gibt es noch die Armee, und diese Burschen mit ihren Bajonetten werden keinen Unfug dulden. Ich weiß nicht, was diese Unruhestifter wollen, aber ich weiß, was sie bekommen werden, verdammt nochmal.«
»Sie wollen ein freies Irland«, sagte Vincent. »Habe ich gehört.«
»Ein freies Irland!« wiederholte Tully. »Himmel, wollen wir denn nicht alle Freiheit für dieses arme Land?«
»Vielleicht«, sagte Vincent.
»Hat nicht Daniel O’Connell, der Befreier, sein ganzes Leben dafür geschuftet? Sind wir nicht alle unter dem Banner der Repeal Association marschiert, die Priester und alle? Wir haben geschuftet und agitiert auf ordentliche, friedliche Weise, ohne an Verbrechen auch nur zu denken.«
»Die Fenier haben keine hohe Meinung von deinem Daniel O’Connell«, erwiderte Vincent. »Er hat hier und dort riesige Versammlungen abgehalten, und als es den Engländern paßte, sich seiner zu entledigen, haben sie ihren Stiefelabsatz auf ihn gesetzt und seine Bewegung zerschlagen. Und als ein oder zwei Jahre später die Hungersnot kam, hat er das Volk nackt ihrem Wüten überlassen.«
Vincent erhob sich und goß sich noch ein Glas Portwein ein. Sein Vater, dessen eigenes Glas unberührt war, redete zu seinem Rücken.
»Vincent, Vincent, du darfst solche Worte nicht aussprechen. Du warst noch nicht einmal geboren, als O’Connell das Volk zum Widerstand gebracht hat. Er war ein Löwe von einem Mann. Er hat Tausenden Mut gegeben; sie haben in seiner Stimme Schutz gesucht. Wir waren nichts. Verachtet. Sie verachteten uns. Er hat noch die Felsen mit seiner Stimme aufgewühlt. Wenn du mußt, kannst du in diesem Hause töricht daherreden, wo niemand dich hört, aber ich werde kein böses Wort gegen den Befreier dulden.«
»Genau das war er«, sagte Vincent. »Er war eine Stimme. Du hast es selber gesagt. Mehr war er nicht.«
Wir kannten ihn, Vincent und ich und alle in unserem Alter, von den kolorierten Stichen an den Wänden unserer Eltern, an Kneipenwänden, von bei Paraden und Prozessionen getragenen Bannern. Rosiges fleischiges Gesicht, stämmige Schultern, eine Hand in die Seite gestemmt, die andere erhoben. Als ob ein Clanhäuptling in einen modernen Anzug gezwängt worden wäre.
»Eine Stimme«, wiederholte Tully verwirrt.
»Er kam und er ging«, fuhr Vincent fort. »Und er hat uns da gelassen, wo Jesus die Juden gelassen hat. Er ist in Italien gestorben, nicht, wahr, im Rufe der Heiligkeit, zur Zeit der Hungersnot, als Irlands Verhungernde hilflos zusehen mußten, wie Korn und Vieh für die englischen Tafeln abtransportiert wurden.«
»Die Hungersnot war eine entsetzliche Heimsuchung, gegen die Menschen nichts vermochten, aber sie liegt jetzt Gott sei Dank hinter uns. Es geht uns nicht so schlecht, mein Junge, den Tullys und Leuten wie uns. Sieh dir doch die Möbel in diesem Zimmer an, die Tische und alles, was selbst ein Protestant voller Stolz sein eigen nennen würde. In Limerick und auch in West Cork heißt es: ›Die Tullys. Wenn du in West Cork Geschäfte machen willst, dann mit den Tullys.‹ Wir sind im Aufsteigen.«
Als Vincent mir diese Worte wiederholte, sah ich vor mir das Bild der aufsteigenden Tullys, eine triumphierende und unwiderstehliche Prozession. Und doch würde Tully für die Ardmors hinter ihren stolzen Toren und für die anderen adeligen Familien immer »Tully mit dem Laden«, bleiben, man würde sich an die Hütte des Hökers erinnern. Und für die kleinen Bauern aus dem Gebirge würde diese Prozession kein mitreißender Anblick sein. Gombeen-Männer unterwegs. Aber man wußte ja schließlich nie. Haben nicht auch die Fugger und die Medici klein angefangen?
»Du kannst das alles wegwerfen, Vincent, wenn du weiter mit einem Burschen wie Nolan zusammen bist. Aber das weißt du selber, du bist doch ein kluger Junge. Du hast mehr in dir als Bob Delaney, und deine Erziehung war besser als die des Schulmeisters. Hughie MacMahon hat Queen’s College nie von innen gesehen.«
»Und Bob Delaney«, fragte Vincent. »Wirst du den auch warnen?«
»Mehr als warnen, bei Gott«, antwortete Tully. »Ich brauche Bob, er leistet im Laden gute Arbeit, aber er hat nicht unser Blut. Wenn er Schande oder Unehre über den Laden brächte, dann würde ich ihn mit einem Pfund aus dem Haus jagen, für das er in Queenstown die Überfahrt bezahlen kann.« Sein rötliches Gesicht wirkte verzerrt, als ob er die Tränen zurückhalten müßte.
Zuneigung, ein schweres, träges Tier, rührte sich in Vincent. Er setzte sein Glas auf den Tisch, beugte sich über seinen Vater und legte ihm die Hand auf den Arm.
»Die Tullys werden nicht untergehen, Vater. Du hast das selber gesagt. Einer von uns geht diesen Weg, ein anderer einen anderen.«
»Ich weiß nichts über Wege«, erwiderte Tully. »Aber ich weiß, was für uns das Beste ist.« Er legte die Hand auf die seines Sohnes und umklammerte sie.
Und so verließ Vincent ihn und ging in sein Zimmer hinauf. Aber er blieb in der Tür stehen. Sein Vater saß bewegungslos da. Er hatte den Kopf von der Tür abgewandt und blickte auf den schweren rosa-weißen Marmor des Kamins, als ob er in dem kühlen, schönen Stein Trost finden könnte.
Читать дальше