Aber Vincent konnte sehr gut die Richtung sehen, in die Tullys Worte sie trugen, und ich sah sie ebenfalls, als Vincent mir die Szene darstellte. Ich konnte diesen Salon sehen, vollgestopft mit den Trophäen des Tullyschen Wohlstandes, mit Ölgemälden in vergoldeten Rahmen, mit der Anrichte, mit den Sesseln, die wie Schiffe auf einem See aus türkischen Teppichen segelten, mit dem Kaminaufsatz wie eine Kathedralenfassade, mit den schützend vorgezogenen Samtvorhängen. Fast konnte ich sogar Tully selber sehen, obwohl er in Vincents Skizze ein wenig vage und unklar blieb, denn sein Vater diente Vincent zwar als Objekt für satirische Portraits, besaß aber doch auch eine tiefe, primitive Macht. Was Vincent nicht hätte vorhersaen können, waren Tullys nächste Worte.
»Ich hatte heute nacht Besuch, Vincent, von Sergeant Honan von der Polizei. Er kam sehr spät, du warst schon längst in die Arms gegangen.«
Vincent erzählte mir, er habe nicht darauf reagiert, sondern ruhig abgewartet, ohne seinen Vater aus den Augen zu lassen, denn Tully hielt einen abgewandten Blick für den Beweis eines Vergehens.
»Er hat nach dir gefragt«, fuhr Tully fort. »Und ich sagte, du wärst höchstwahrscheinlich mit deinen Freunden in den Arms und würdest von dort aus sicher noch zu irgendwem auf ein letztes Glas gehen, vermutlich zu Hughie MacMahon. Oder in die Berge, um in irgendeiner Hütte Poitín zu trinken, den er aus der Baronie verbannen soll, wie ihm sein Eid befiehlt. Es ist ein großer Trost für einen Vater, das Benehmen seines Sohnes vorherzusagen.«
»Wenn Sergeant Honan nichts von Pat Laffans Poitín weiß, dann ist er in seinem Unwissen aber wirklich allein«, meinte Vincent, leichthin, aber auf der Hut. Der Portwein, der nicht aus Laffans Brennerei stammte, sondern von den sonnenbeschienenen Hügeln Portugals, lag reich und süßlich auf seiner Zunge.
»Du bist nicht der einzige, der Ned Nolan interessant findet«, sagte Tully. »Die irische Polizei interessiert sich auch für den Jungen. Interessiert sich wirklich sehr. Und auch für seine Freunde, die er sich in Kilpeder vielleicht zulegt.«
»Er hat sich zuerst seinen leiblichen Vetter zugelegt, Hugh MacMahon«, erwiderte Vincent. »Und Bob Delaney und mich selber. Bei Gott, die Polizei macht sich ganz schön Arbeit, wenn sie die Freundschaften unter den Männern von Kilpeder untersuchen will.«
»Du weißt sehr gut, was ich meine, Vincent, und es gehört durchaus zu ihren Pflichten. Sergeant Honan hat streng vertraulich mit mir gesprochen. Es geschah aus seiner Herzensgüte und aus seiner Besorgnis um dich und um mich.«
»Um mich?« fragte Vincent. »Und um dich?«
»Es sind verzweifelte Männer am Werk, Vincent, die Kummer und Elend über uns alle bringen können. Du brauchst nicht zur Polizei zu gehen, um das zu erfahren, du brauchst nur in der Messe Pater Cremin zuzuhören. Er hat sie von der Kanzel herab angeklagt, und er hat den Brief unseres Bischofs vorgelesen, der sie entlarvt. Diese verzweifelten Männer, wenn sie machen könnten, was sie wollten, dann würde in den Straßen von Kilpeder und in jeder anderen Stadt in Irland Blut vergossen werden.«
»Und was hat das mit Ned Nolan zu tun?«
»Hältst du deinen eigenen Vater für ein Kind, Vincent? Und hältst du Dublin Castle für hurleyspielende Kinder? Ned Nolan ist ein bekannter Mann. Er ist ein eingeschworener Fenier. Das war in New York bekannt, und was in New York bekannt ist, das weiß auch Dublin Castle. Sie schicken seit sechs Monaten ihre Männer herüber, Schurken und Verworfene, ohne Beschäftigung, jetzt, wo der Krieg zu Ende ist.«
»Und Ned Nolan gehört zu ihnen, wollte Honan dir das sagen?«
»Er hat es mir nicht nur gesagt, Vincent. Er hat einen Bericht aus Dublin mitgebracht und ihn mir gezeigt, in dem Nolans Name steht. Und die Namen der Verbrecher, die ihn losgeschickt haben, und der Tag, an dem er in Dublin angekommen ist. Das alles ist bekannt. Und es war höchst gefährlich für ihn, mir diesen Bericht zu zeigen. ›Äußerste Geheimhaltung‹, stand oben auf dem Blatt, über dem Wappen.«
»Großer Gott«, sagte ich, als Vincent mir das erzählte, aber er zuckte die Schultern.
»Was hast du denn erwartet, Hugh?« fragte er. »Daß die Yankee-Offiziere hergekommen sind, war kein Geheimnis. Es hat im Cork Examiner gestanden. Und die Polizei in Kilpeder weiß noch mehr. Sie wissen, daß es hier einen eingeschworenen Zirkel gibt, weil sie Kneipenprahlereien gehört haben. Aber sie wissen nicht genau, wie groß der ist. Sie glauben, daß du vielleicht der Ortskommandeur gewesen bist, aber daß Ned dich ablösen soll. Und da liegen sie ja nicht allzu falsch.«
Nicht allzu falsch, in der Tat. Und warum ich nicht damit gerechnet hatte, weiß ich selber nicht. Wenn es um Agitation oder Aufwiegelei geht, ist der Schulmeister ein gezeichneter Mann. So war es 48, und so sollte es in den 80er Jahren mit der Land League wieder werden. Wir sind normalerweise ein friedlicher Haufen, wir armen Teufel; und wenn ich eine Bezeichnung für uns alle finden sollte, dann würde ich mich für furchtsam entscheiden, voller Eifer, sich mit Priestern und Inspektoren und ähnlichen Würdenträgern gut zu stellen. Aber wir sind über unseren Stand gebildet, und wir haben unsere kleinen Eitelkeiten, unsere Kenntnis der irischen Geschichte, patriotische Gedichte und Reden von der Anklagebank und den ganzen Rest. Und ich muß zugeben, daß meine Vorgänger am Ort keine glückliche Tradition geschaffen hatten, mit Thomas Justin Nolan, und lange vor ihm dem wilden Dichter und Hurenbock Owen Ruagh MacCarthy, der sich den Rebellen in Mayo angeschlossen hatte und zur Belohnung für seine Bemühungen gehenkt wurde. Aber daß mich irgendwer für den Leiter auch nur einer Antialkoholikerloge halten konnte, verringerte meine Achtung für die Polizei, obwohl das Dokument, mit dem Honan bei den Tullys erschienen war, dem widersprach.
»Aber was ist mit Bob und dir?« fragte ich, um die angemessene Besorgnis um die Sicherheit meiner Freunde zu zeigen.
»Ach, weißt du«, antwortete Vincent. »Uns schützt unser Charakter. Bob ist der ehrgeizige junge Bob Delaney, Dennis Tullys Ladengehilfe. Und was mich betrifft, über mich wissen doch sicher alle Bescheid, Frauen und Rennen und so weiter. Ein Möchtegern-Gentleman, ein Shoneen h. Bob ist mehr Tully als ich selber. Das sagt ganz Kilpeder, das hast du selber gesagt. Und mein Vater glaubt es auch, ehrlich gestanden.«
Seine Worte hatten einen bitteren Unterton, wie ein Mann, der in eine saure Rinde von Wahrheit beißt. Es war fast seit dem ersten Tag so gewesen, als Bob den Hof seines Vaters verlassen hatte, um im Laden zu arbeiten, jüngster Sohn eines Farmers von mittlerem Wohlstand, ein stämmiger junger Bursche mit dem leichten, aber doch lebhaften Auftreten, das dem Selbstvertrauen entspringt. Ich erinnere mich gut an diesen Bob, einen angenehmen Bekannten, der noch kein Freund geworden war, an einem Abend in den Arms oder bei Conefry, schlagfertig und von trockenem Humor, aber immer mit dem ruhigen Blick, der einen Raum voller Männer zu ihren wahren Proportionen schrumpfen lassen konnte, ein Teil seiner selbst hielt sich aus den Neckereien heraus. Ich erinnere mich, wie er im Laden war und wie Tully ihn beobachtete, zufrieden und leicht besorgt, wie ein Mann, der feststellt, daß das eben gekaufte Arbeitspferd sich als geschmeidiger, fähiger Jäger entpuppt hat.
»Aber es gibt einen Unterschied, Vincent«, sagte ich. »Du bist derjenige mit dem Tullyblut, sein einziger Sohn. Du bist derjenige, den er liebt.«
»Ich weiß«, erwiderte Vincent. »Und bei aller Furcht, die seine Worte mir eingeflößt haben, wußte ich auch, daß er da voller Kummer und Besorgnis saß. Cornelius Honan hat jetzt seinen Verdacht, weißt du, und diesen Verdacht hat er in unser Haus gebracht. Er wollte mich vor Ned und dir warnen.«
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