Lachend schwang sich Akkamas in die Luft und ließ sie in einer Wolke aufgewirbelten Staubs zurück. Halb schmunzelnd, halb gereizt wischte sich Athanor den Dreck aus dem Gesicht. Er hatte ohnehin dringend ein Bad und eine Rasur nötig. Aber obwohl ihn Akkamas’ Anspielung amüsiert hatte, berührte sie einen wunden Punkt. Elanya ist tot. Ich kann es treiben, mit wem ich will. Doch warum freute er sich dann nicht darauf, Nemera wiederzusehen?
»Du siehst aus, als hättest du Schlaf nötig«, stellte Mahanael fest.
Athanor nickte und wandte sich der zerstörten Stadt zu. »Wir sind die ganze Nacht hindurch geflogen.«
Jenseits des Tors hatten sich mittlerweile einige Flüchtlinge versammelt, um den Kaysar, den Herrn über die Lebenden und die Toten, angemessen willkommen zu heißen. Männer, Frauen und Kinder säumten die Gasse durch den Schutt und fielen auf die Knie, als er näher kam. Athanor begriff nicht, wie sie ihn für einen Gott halten konnten. Er schwitzte wie sie, blutete wie sie, und über die Toten gebot er schon gar nicht.
Sobald sein grimmiger Blick in ihre Richtung schweifte, kauerten sie sich zusammen, dass ihre Stirnen den Boden berührten. Dieser Brauch musste aus der Zeit stammen, bevor die Schiffe aus der Alten Heimat gekommen waren. »Wie oft habe ich euch schon gesagt, dass ihr euch nicht in den verfluchten Dreck werfen sollt! Seid ihr nicht schmutzig genug?«
Hastig rappelten sie sich auf und sahen beschämt an sich herab. Kaum jemand von ihnen besaß mehr als die fleckigen, zerrissenen Kleider am Leib. Tag für Tag wühlten sie im Schutt nach Vorräten, richteten in den Ruinen notdürftige Unterkünfte ein und schleppten Wasser aus den Zisternen herauf. Athanor hätte sich selbst ohrfeigen können. Er war ein genauso beschissener Gott wie die anderen, die sich von den Menschen abgewandt hatten. Aber diese Schafe wollten ihn ja unbedingt. »Geht wieder an die Arbeit!«, fuhr er sie an und fühlte sich noch schlechter, als sie eilig gehorchten.
»Sind die Menschen in anderen Teilen der Welt denn … weniger unterwürfig?«, erkundigte sich Mahanael, während sie weitergingen. Vor seiner Ankunft in Dion hatte er nie einen Menschen zu Gesicht bekommen.
»Nein, sie waren …« … stolz. Theroier verneigen sich, aber sie erniedrigen sich nicht. Athanor wollte es sagen, doch es kam ihm nicht über die Lippen. Wem machte er eigentlich etwas vor? In seinen Erinnerungen war er stets nur von Freunden und Verwandten umgeben, von Kameraden, Kriegern von hohem Rang. Den anderen hatte er schlicht keine Beachtung geschenkt. Ihre Kniefälle am Wegesrand waren so selbstverständlich – und so bedeutungslos – gewesen wie die Bäume, die den Pfad säumten. »Ich habe sie nur nie wahrgenommen.«
Überrascht hob der Elf die Brauen.
»Sie waren mir fern«, versuchte Athanor, es zu erklären. »Es gab andere, die sich um die Belange des einfachen Volks gekümmert haben. Als Kronprinz hatte ich Wichtigeres zu tun.« Frauen nachstellen. Zur Jagd reiten. Einen Krieg anzetteln, der sie alle das Leben gekostet hat … »Ich wurde nicht dazu erzogen, die verdammte Verantwortung für sie zu übernehmen!« Und doch habe ich sie.
»Wir Elfen übertragen jenen Verantwortung, die sich darin bewährt haben. Mir erscheint das sinnvoller, als einem Kind diese Bürde per Geburt aufzuladen.«
»Erzähl das ihnen«, brummte Athanor und deutete vage auf zwei Männer, die mit Beilen einen zu Kohle verschmorten Baum zerteilten. Jedes andere Brennmaterial war angenehmer als getrockneter Eselsdung.
Mahanael lächelte. »Es wird nichts nützen, denn in ihren Augen hast du dich bewährt. Du hast den Nekromanten getrotzt und das Drachenheer besiegt. Wenn du ein Elf wärst, würde ich bei der Wahl zum Ältesten auch für dich stimmen.«
»Hab ich ein Glück, dass ich kein Elf bin.«
Mahanaels Lächeln bekam einen bitteren Zug. »Dann wären wir wohl nicht hier.«
Nein. Denn dann wäre unser ungeborenes Kind kein Bastard gewesen, und Davaron hätte Elanya niemals umgebracht. Zumindest glaubte er, dass Davarons Hass auf die Menschen der Grund für den Mord gewesen war. Der Mistkerl hatte nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr ihn …
»Herr!«
Aufgeregte Stimmen rissen ihn aus den Gedanken.
»Kommt alle helfen! Schnell!«
»Ehrwürdiger Kaysar!«
»Was ist los?«, rief Athanor dem Jungen entgegen, der auf ihn zueilte. »Komm!«, wandte er sich an Mahanael und lief bereits in die Richtung, aus der die Stimmen kamen.
»Da ist jemand verschüttet. Unter den Trümmern. Ganz in der Nähe«, sprudelte der Junge hervor. Er war zwölf oder dreizehn und hatte das schwarze Haar und die hellbraune Haut der alten Dionier geerbt.
»Warum zum Dunklen hört mir hier nie jemand zu! Ich hatte strenge Anweisung gegeben, jede Ruine erst abzustützen, bevor darin etwas angerührt wird. Wie die Zwerge ihre Stollen sichern.«
»In den Silberminen arbeiten nur Zwerge?«
»Vergiss es einfach.« Selbst Vindur hatte den Dioniern als kleingeratener Mensch gegolten. Sie verstanden nicht, was ein echter Zwerg war.
»Aber es kann keiner von uns sein, Herr. Ich schwöre beim Großen Drachen! Wir waren da nicht drin.«
Skeptisch musterte Athanor den Schuttberg, vor dem sich bereits zahlreiche Helfer eingefunden und Menschenketten gebildet hatten. Mit Feuereifer reichten sie Ziegelsteine und Mörtelbrocken weiter, nur um sie planlos auf einen anderen Haufen zu werfen. Es musste ein Nebengebäude des eingestürzten Drachentempels sein, an den es grenzte. »Du meinst, jemand hat unter den Trümmern überlebt?«
Der Junge nickte aufgeregt.
»Ja, Herr«, mischte sich eine Fremde ein. »Wir haben Kratzen und Pochen gehört. Als ob sich jemand befreien oder auf sich aufmerksam machen will.«
Nach einem halben Mond? Athanor wechselte einen erstaunten Blick mit Mahanael.
»Vielleicht hatten sie einen unterirdischen Lagerraum und wurden darin verschüttet«, vermutete der Elf.
»Ein Keller?« Das wäre möglich. Wenn sich dort auch Fässer mit Wasser oder Wein befunden hatten, konnte jemand so lange ausgeharrt und vergeblich um Hilfe gerufen haben. »Du hast recht. Holen wir die arme Seele da raus!«
* * *
Bald war die Morgenkühle verflogen, und die unbarmherzige Sonne Dions sengte auf die Retter herab. Nur noch verkohlte Stümpfe erinnerten an die Bäume, die dem Tempelgarten einst Schatten gespendet hatten. Hin und wieder ließ Mahanael eine magische Brise vom Hafen herüberwehen, doch selbst ihm rann der Schweiß über die Stirn.
Athanor hatte die Spitze einer Menschenkette übernommen und klaubte Brocken für Brocken auf, um ihn dem Elf zu übergeben, der ihn wiederum weiterreichte. Längst hatte er sich des Kettenhemds entledigt und ignorierte das Stechen im verwundeten Arm. Die Arbeit ging quälend langsam voran. Immer wieder rutschte der Schutt an Stellen nach, an denen sie es nicht erwartet hatten. Oder sie stießen auf größere Trümmer, die erst zerschlagen werden mussten, bevor mehrere Männer gemeinsam in der Lage waren, sie zur Seite zu wuchten. Einmal blieb ihnen sogar nichts anderes übrig, als einen Steinblock der Tempelmauer mit einem Eselsgespann aus dem Weg zu ziehen. Von Zeit zu Zeit rief jemand nach den Verschütteten und sprach ihnen Mut zu. Zur Antwort polterte es dumpf unter dem Schutt, als ob Fäuste gegen Holz hämmerten. Schon arbeiteten die Retter trotz der Hitze wieder schneller.
Athanor hätte nicht sagen können, wann Rhea aufgetaucht war. Mit einem Mal stand das kleine Mädchen da und sah ihm zu. Die ernsten Augen waren so dunkel wie das strähnige Haar. Athanor hob einen weiteren Brocken aus Mörtel und Ziegelsteinen und blickte sich nach Laurion um, der sich des Waisenmädchens angenommen hatte wie ein Verwandter.
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