1 ...7 8 9 11 12 13 ...28 Viele Theoretikerinnen der Sozialen Arbeit benennen die Autonomie der Klientinnen oder die allgemeine Autonomie der Lebenspraxis als zentralen Wert, den es zu fördern gilt (u. a. Oevermann 2013; Heiner 2004; Dewe et al. 2001 – vgl. auch die Zusammenstellung bei Becker-Lenz/Müller 2009:60 f.). So bestimmen beispielsweise Dewe et al. Soziale Arbeit als Hilfe, »die in dialogischen Prozessen erbracht wird, und die auf die Wiedergewinnung und Steigerung der Handlungsautonomie ihrer Adressaten ausgerichtet ist« (2001:18). ›Achtung vor der Würde und dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen‹ (vgl. Müller 1991:144), Anerkennung der Klienten als »Subjekt ihres Lebens« (Thiersch 2002:11) sind weitere Umschreibungen für die Autonomie der Lebenspraxis, welche die Soziale Arbeit unterstützt (
Kap. 4.1).
Rauschenbach/Zürcher (2012:169) stellen nach ihrer Durchsicht der aktuellen theoretischen Beiträge zur Sozialen Arbeit fest, dass sich derzeit drei Richtungen unterscheiden lassen. Die Soziale Arbeit reagiere im Wesentlichen – je nach theoretischem Entwurf in unterschiedlicher Betonung – auf drei soziale Tatbestände:
• auf die ›Erziehungstatsache‹, die vielschichtiger werdenden Herausforderungen des Aufwachsens (in Schule, Familie und jenseits davon) und die unterschiedlichen Modalitäten der individuellen und gesellschaftlichen Reaktionen darauf,
• auf soziale Probleme, alte und neue Ungleichheiten, Fragen der sozialen Integration und Desintegration, der Inklusion und Exklusion,
• auf ›Risiken der individuellen Lebensführung und der alltäglichen Lebensbewältigung‹, also auf die durchschnittlichen sozialen Risiken, auf die Biografien und Lebensläufe und die damit einhergehende Gestaltung und Bewältigung von Lebenslagen.
Vor diesem Hintergrund umreißen Rauschenbach/Zürcher die gesellschaftliche Bedeutung und fachliche Identität der Sozialen Arbeit in der Summe als »öffentliche Reaktion auf einen politisch anerkannten Hilfebedarf von Personen und Personengruppen – gleich welcher Art und welchen Alters – in modernen Gesellschaften« (ebd.). Und Thole (2012a:27) resümiert, ganz allgemein gehe es in der Sozialen Arbeit um »öffentlich organisierte Aufgaben der sozialen Grundversorgung, Hilfe, Unterstützung und Bildung durch fachlich einschlägig qualifizierte Personen«.
Soziale Arbeit ist ein Moment innerhalb des Sozialstaatsprinzips, sie ist ausgerichtet darauf, soziale Gerechtigkeit in einer Gesellschaft sichern und die Würde von hilfebedürftigen Menschen und Gruppen wahren zu helfen und zur Bewältigung individueller Schwierigkeiten beizutragen. Sie leistet einen Beitrag zu sozialer Grundversorgung und Bildung, sie bietet Unterstützung in der Alltagsgestaltung und Lebensbewältigung an und trägt bei zu sozialer Integration. Im spannungsreichen Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft vermittelt sie anwaltschaftlich für das als selbsttätig und autonom verstandene Individuum. Mit den Begriffen ›soziale Gerechtigkeit‹, ›soziale Integration‹ und ›Autonomie in der individuellen Lebenspraxis‹ sehen wir die Zielsetzung Sozialer Arbeit umrissen.
In einzelnen Organisationen der Sozialen Arbeit wird dieser Auftrag der Profession in Hinblick auf eine Zielgruppe und/oder Problematik spezifiziert und beinhaltet jeweils eine bestimmte Hilfeform. Der allgemeine Auftrag der Sozialen Arbeit als übergeordnete Ausrichtung und der konkretisierte organisationsspezifische können als Leitplanken für das professionelle Handeln verstanden werden. Beide sind nicht nur beim professionellen Handeln, sondern auch beim Nachdenken über die Methodisierbarkeit dieses Handelns stets mit zu berücksichtigen.
In diesem Lehrbuch thematisieren wir das professionelle Handeln im Hinblick auf die sog. individuumsbezogene Funktion Sozialer Arbeit, mit ihrem Fokus auf die Veränderung von Lebensweise und Lebensbedingungen. Dies beinhaltet die Arbeit mit Einzelpersonen, Familien, Gruppen und Gemeinwesen. Auch wenn wir als AutorInnen die gesellschaftsbezogene Funktion der Sozialen Arbeit für wichtig erachten, so müssen wir akzeptieren, dass Einbezug und Thematisierung des politischen Mandats die Grenzen dieses Lehrbuches sprengen würde.
2.2.3 Grundorientierungen und Bedeutung von wissenschaftlichem Wissen
Wir haben gesehen, dass die Soziale Arbeit an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft befasst ist, wo sich immer wieder mögliche Problemlagen und Anforderungen zeigen, bei deren Bewältigung Menschen auf Unterstützung angewiesen sind. In der Auseinandersetzung mit komplexen Problemstellungen geht es um Unterstützung in Hinblick auf eine möglichst selbstbestimmte Lebenspraxis. Soziale Arbeit will beitragen zu einem gelingenden, ›guten‹ Leben und in (Krisen-)Situationen – wenn eine autonome Lebensführung gefährdet ist und sich oft auch Sinnfragen stellen – Hilfe leisten und soziale Integration ermöglichen (vgl. Hochuli Freund/Hug 2017:50). Abschließend soll nun dargelegt werden, wie die Soziale Arbeit diese Aufgabe wahrnimmt.
Grundorientierungen und Grundprinzipien
In den letzten drei Jahrzehnten sind spezifische Theorien der Sozialen Arbeit entwickelt worden, welche den Gegenstand der Sozialen Arbeit genauer fassen, Problemstellungen differenziert darlegen, Zielsetzung und Aufgaben bestimmen und Zugänge beschreiben, wie diese Aufgaben wahrgenommen werden können. Dazu gehören u. a. das Konzept der Lebensweltorientierung von Thiersch (2002, 1992), der Lebensbewältigungsansatz von Böhnisch (vgl. u. a. Böhnisch 2008, 2012), die Theorie ›Integration und Lebensführung‹ (Sommerfeld et al. 2011), das Systemtheoretische Paradigma der Sozialen Arbeit (Staub-Bernasconi 2007a, 2012, Geiser 2013). Wir werden hier nicht näher auf diese einzelnen Entwürfe eingehen, sondern zunächst nur festhalten, dass sich Lebensweltorientierung und ein systemischer Zugang mittlerweile als allgemeine Grundorientierungen in der Sozialen Arbeit etablieren konnten. Des Weiteren möchten wir eine Gemeinsamkeit all dieser Theorien skizzieren und anschließend einige Grundprinzipien herausarbeiten, auf die in den aktuellen Methodenlehren (u. a. Galuske 2013, von Spiegel 2013, Stimmer/Ansen 2016, Wendt 2017, Cassée 2019, Thimm 2020) Bezug genommen wird und die heute zum Selbstverständnis der Sozialen Arbeit gehören.
Theoretische Grundlage sei überall eine bio-psycho-soziale Perspektive, so Pauls (2013:32 ff.). Alle Theorien weisen eine inhaltliche Nähe zum Person-in-Umwelt Modell (person-in-environment) und zum biopsychosozialen Modell auf, konstatiert auch Röh (2018a:103). Probleme der Lebensbewältigung werden demnach als komplexes Interaktionsgeschehen zwischen bio-psychischen, sozialen und kulturellen Dimensionen aufgefasst. Der besondere Zugang der Sozialen Arbeit besteht darin, im Rahmen des biopsychosozialen Modells – das auch in anderen Disziplinen wie Medizin und Psychologie zu den Grundlagen zählt – vor allem die soziale Dimension auszuleuchten. Dazu gehören auf Seite der Person alle interaktionalen Bezüge wie soziale Beziehungen und soziale Netzwerke, auf Seite der Umwelt geht es um soziostrukturelle und sozialökologische Aspekte.
Neben dem Blick auf die ›Person in ihrer Umwelt‹ und dem Fokus auf die soziale Dimension kann auch Ressourcenorientierung als allgemeines Grundprinzip der Sozialen Arbeit gelten (vgl. u. a. Buttner 2018:142, Schubert 2018:112). Dabei geht es sowohl um die Möglichkeiten, die in der Person selbst liegen (personale Ressourcen) wie auch um solche, welche die Umwelt, in der ein Mensch sich bewegt, bereithält (Umweltressourcen, vgl. Wendt 2017:32, oder auch: Schubert 2018:114 ff.). Hier geht es sowohl um Ressourcenaktivierung (so der Titel von Flückiger/Wüsten 2015) wie auch um Prozesse von Empowerment, wie Herriger sie in seinem Standardwerk (2020, 1. Auflage 1993) ausführlich beschrieben hat. Das im Abschnitt oben bereits erwähnte Prinzip ›Hilfe zur Selbsthilfe‹ hängt hiermit eng zusammen.
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