Hoch über allen Dächern zog sich in unendlicher Zackenlinie der Spitzensaum der Brandung hin, ein grünlich phosphoreszierender Strich, ein magisches Zeichen weit draußen in Nacht und Ferne ...
Wahrscheinlich glitt Walter unmerklich hinüber in den Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachen, in jenen Vorhof der Seligkeit. Er vernahm eine weiche, einschmeichelnde Stimme. „Sayonara“, sagte die Stimme vom Garten her.
Weiter unten, aus der dunklen Gasse, antwortete eine andere Stimme: „Sayonara“.
Sayonara — das war das erste japanische Wort, das Walter deutlich hörte. Er hörte es zwischen Traum und Wirklichkeit. Es klang wie zartlockender Geigenton, ergreifend und von dunkler Tiefe ...
Durch die offene Hauswand trat es nun, das Mädchen, das Walter nie mehr vergessen konnte ... Auf einmal ragte es vor dem unbegreiflich blauen Himmel auf und glitt lautlos ins Zimmer. Es mußte wohl ein Gebilde des Zwielichts und des Schlummerns sein.
Ja, es mag sich wohl so verhalten, daß der junge Fremdling ein wenig eingeschläfert worden vom seidenzarten Dämmerlichte und von den fernen Geräuschen der fremden Gassen, daß er mit geschlossenen Lidern träumte und versunken war ins Märchenreich. Da weckte ihn das kaum merkliche Beben des Bodens oder vielleicht nur ein leiser Atemzug ...
In größter Verwirrung fährt er empor, macht einen kleinen Schritt, starrt mit ungläubigem Erstaunen auf die Erscheinung, auf das Mädchen, das sich da lächelnd vor ihm verbeugt. Und dann macht er noch einen kleinen Schritt. So vollkommen geistesabwesend ist er, daß er das Mädchen in seiner eigenen Sprache anredet und fragt: „Wer bist du?“
„Konbanwa“, antwortet es ihm. Es ist eine feine, hohe Stimme, es ist der schwingende Klang einer silbernen Glocke.
„Konbanwa“? — Was in aller Welt ...?
„Konbanwa“, wiederholt die süße, kleine Stimme. Und dann auf Englisch: „Guten Abend, o Herr — hier ist deine Nesan ...“
Sie trug drei seidene Kimonos übereinander, alle drei gleichzeitig sichtbar und in kunstvolle Falten gelegt. Sie hatte sich offenbar geschmückt zu dieser Begegnung. Ihr glänzendes schwarzes Haar war frisch frisiert und hoch aufgebauscht; ein paar lange Elfenbeinspieße staken darin, kostbare Nadeln mit Knöpfen aus Gold und Perlmutter. Aus den unmäßig weiten Ärmeln hervor tauchten ihre schmalen, weißen Hände.
Mit diesen weißen Händen klatschte sie zweimal und ließ sich in kindlicher freier Anmut vor dem fremden Manne nieder. Sie versank gleichsam in den schillernden Falten ihrer bunten Gewänder. Nun gemahnte sie an eine köstliche Porzellanfigur aus Nagoya.
Durch die offene Hauswand herein kamen zwei Dienerinnen. Die trugen ein fußhohes Tischlein aus rotem Lack, auf dem viele Schüsseln, Schalen und Täßlein standen. Sie stellten das Tischlein zwischen Walter und dem Mädchen auf den Boden, verbeugten sich und verschwanden wieder.
In mangelhaftem und sehr komischem Englisch sagte das Mädchen ungefähr dies: „Ja, Herr — ich, die hier sitze, bin deine Nesan. Ich will dir in allem dienen. Wünschest du jetzt zu essen?“
Sie erschien Walter als ein Wesen von ungewöhnlichem Liebreiz. Das tiefschwarze Haar, die dunklen, sanften Mandelaugen, das weißgepuderte Gesicht mit dem kirschrot gemalten Mund, ihre Stimme, die Art und Weise, wie sie sich im Sitzen hin und her neigte — alles an diesem Mädchen erschien ihm seltsam fremd und seltsam schön. Ganz asiatisch, ganz japanisch der Schnitt ihres Gesichtes, gewiß; aber dennoch blieben die besonderen Merkmale der Mongolenrasse eigentümlich gemildert. Wohl standen die Mandelaugen ein wenig schief, und es war auch ein kleiner Anflug der Falte da. Doch ihre Nase war keineswegs breit und flach, nein, es war ein keckes, zierliches Stumpfnäschen. Ihr Gesicht war schmal und ohne hervorstehende Backenknochen.
Der junge Fremdling betrachtete seine Nesan recht aufmerksam, ja mit einem gewissen Mißtrauen. Er ahnte wohl die Gefahr, die ihm in ihrer Lieblichkeit drohte. Er war doch noch immer so verwirrt von ihrer Erscheinung, daß er zu ihr sagte:
„Ich glaube, du nanntest dich vorhin Konbawa ...“
„Ach nein, Herr. Ich grüßte dich.“
„Warst du es, die eben im Garten rief? Du riefst: Sayonara.“
„Ja, das muß wohl meine Stimme gewesen sein ...“
„Nun will ich deinen Namen nicht wissen. Nein, ich werde dich Sayonara nennen — oder besser nur Yona, du meine kleine Märchenfee ... Du weißt es selber nicht, aber deine süße Stimme grüßte mich ehe deine Augen mich sahen ... Du bist mir ein Gruß dieses herrlichen Himmels. Du, Yona, bist mir geschenkt worden an diesem Abend, der der unbegreiflichste und verwunderlichste ist in meinem Leben.“
Begeistert, wie er war, streckte er seine Hand über das Tischchen mit allen seinen Schüsseln und Schälchen hin und erläuterte ihr umständlich: „Yona will ich dich nennen, verstehst du? — Hörst du — Yona?“
„Ja Herr. Es sei, wie du es wünschest“, antwortete sie. „Ja, ja — ich bin deine Yonami.“
„Was bedeutet es, das Wort, das du im Garten riefst?“
„Sayonara? — Auf Wiedersehen ...“
Hierauf hob sie mit behutsamen Händen die Deckel von den Schüsseln, ergriff die elfenbeinernen Eßstäbchen und begann ihn zu füttern wie ein kleines Kind. Sie gab ihm in ganz bestimmter Reihenfolge von dem Reis, der so weiß und locker war wie Neuschnee, sie gab ihm kleine gebratene Fische mit winzigen Geflügelstückchen und rohe, gesalzene Fische; gab ihm teils milde, teils scharfgewürzte Sachen, Rettiche, roh und gekocht, zarte Bambusschosse; viele sonderbare Speisen, die ihm teilweise wohlschmeckten und teilweise das Wasser in die Augen trieben. Einiges schmeckte so fürchterlich, daß er den Atem anhielt.
In gespannter Aufmerksamkeit hingen ihre Blicke an seinem Gesicht; sie versuchte, seine Wünsche zu erraten. „Gut?“ fragte sie und nickte beifällig. „Nicht gut“, sagte sie und schob diese oder jene Schale zurück. Zuletzt gab sie ihm kleine Kuchen und verzuckerte Früchte.
Er saß und schluckte alles, das Gute und das Nichtgute ... „Diese Mahlzeit“, dachte er bei sich selber, „nein, dieses Essen und dieses Mädchen ist doch ganz und gar unmöglich ... Aber wunderbar ist es, das soll Gott wissen ...“
Er schüttelte den Kopf und dachte: „Wahrscheinlich habe ich wieder einen Anfall des elenden Fiebers, das ich mir dort hinten in Nagapatam geholt. Und dieses süße Menschenwesen ...? Paß nur auf, mein Lieber, gleich wirst du in einem kahlen Krankenzimmer aufwachen und neben deinem Bette sitzt wieder die alte, strenge Pflegerin, die dir immer diese scheußlichen Chininpulver einstopft ...“
So grübelte er, und ihm bangte sehr vor der Rückkehr ins frühere Leben. Leise, fast angstvoll fragte er: „Yonami?“
Ihm antwortete zu seiner unbeschreiblichen Freude und Erleichterung die kleine helle Stimme: „Ja, Herr — Yonami ist bei dir.“
Yonami antwortete genau so, als habe sie seine Gedanken erraten. Dann fragte sie: „Was wünschest du zu trinken? Sieh, hier ist Tee und hier ist Saké, und das dort ist Reisbier ... Was darf ich dir geben, o Herr?“
Da lachte er gleich einem ausgelassenen Jungen: „Ach, süße Yonami, gib mir doch alles auf einmal ... Gib mir von deinem goldgrünen Tee, gib mir vom gelben Saké, und dann gib mir auch noch von deinem Reisbier ... Aber zuerst sollst du selber essen und trinken ...“
Yonami schüttelt den Kopf, Yonami schüttelt sehr ernsthaft ihren hübschen Kopf mit dem ungeheuren Haarturm und erklärt mit Bestimmtheit: „Entschuldige, Herr, daß ich dir widersprechen muß ... Aber jetzt, vor dir zu essen, das würde sich für deine Nesan übel schicken ... Vielleicht befiehlst du nun, daß das Essen abgetragen werde ...?“
Wieder klatschte sie in ihre weißen, kleinen Hände. Die Dienerinnen trugen Tisch und Schüsseln fort und brachten kleine silberne Pfeifen. Komische Tabakspfeifen mit langem Rohr und einem Kopf nicht größer als ein Fingerhut. Yonami stopfte mit drolliger Wichtigkeit eine Prise hellen Tabak in den Pfeifenkopf, überreichte die Pfeife ihrem Herrn und holte mit einer silbernen Zange ein glühendes Kohlestücklein aus dem Feuerkessel. Das alles machte sie in unnachahmlicher Anmut. Stets faßte sie auch das kleinste Ding mit beiden Händen an. Aber dabei war nichts Gemachtes, kein Spreizen der Finger. Alle ihre Bewegungen hatten Kultur. Yonami machte aus dem Dienen eine hohe Kunst. Mit dem glühenden Kohlestücklein zündete sie ihrem Herrn die Pfeife an. Auf seine Aufforderung rauchte auch sie.
Читать дальше