Ja, wüßte Madeleine genau, das Gesetz der Fremden wäre, wie Ernest es voraussetzt, ihrem Volke heilsam, es bedürfte des Zwangs, der starren Ordnung, der vorgekauten geistigen Speise, der festgefügten Gesellschaftsform, aufgebaut nicht nach einer geistigen und sittlichen Hierarchie, einem christlichen Ordo, sondern der vollkommensten Unterordnung, dem unverbrüchlichsten Gehorsam, der hingebungsvollsten Leistung für den vergotteten Begriff »Staat« gemäß – könnte sie glauben, es gereichte Frankreichs Kindern zum Segen, wenn sie nicht an der väterlichen Hand, nicht am Knie der Mutter aufwüchsen, sondern in einer riesigen, vielfach verschachtelten, zwanghaft gestaffelten, nur im Erotischen unbeaufsichtigten Gemeinschaft; dürfte sie annehmen, es gereichte den Jünglingen und Mädchen zum Vorteil, wenn sie nicht mehr die unvoreingenommene Lehre der Sorbonne und der anderen Universitäten, sondern die politisch bevormundete, beschnittene und zugestutzte Heilsbotschaft der nationalsozialistischen Hochschulen empfingen –, dächte sie, es förderte die Innigkeit des Ehelebens, wenn Gatte und Gattin nicht so sehr einander wie ihren Parteivorständen gehören; könnte sie zugestehen, daß ihre heimatliche Erde unter Kunstdünger und Traktor und den neuesten technischen Gewaltmitteln besser gediehe, daß der Bauer unter der neuen Ordnung bei größerer Schonung, geringerer Plage, geringeren Abgaben leichter atmen würde als in der aus Väterzeit überkommenen, langsam veränderten und verbesserten Arbeitsweise (aber nein, er ist ja einer neuen Fron und Robot, einer neuen Corvée untertan), müßte sie zugeben, daß ihr Vaterland, ausgesogen und herabgekommen, von Schädlingen geplündert, von eigensüchtig-eitlen Abgeordneten entsittlicht, von feigen Soldaten preisgegeben, von gekauften Generalen verraten und ausgeliefert – von seinen Besten beweint und verlassen – der harten Bestrafung, der strengsten Zucht, der unausgesetzten Aufsicht, der vollkommensten Freiheitsberaubung und Führung durch Fremde bedürfte – sie sagte sich, wie die Mutter vor dem Throne Salomos: Möge mein Kind der Fremden zugehören, an ihrer Brust ruhen, ihrer Stimme gehorchen, falls es nur lebt, atmet, wächst, gedeiht –, falls es nur dem Tode entrissen wird!
Gerne nähme Madeleine Verbannung, Armut, Abhängigkeit lebenslang auf sich, dürfte sie nur hoffen, daß die Jahre ihrer einsamen Ausgesetztheit ihrer Heimat Festigung, Eintracht, Erneuerung bescheren würden. Aber, unterbricht Madeleine sich schnell: wenn ich das bejahen dürfte, wäre ich dann hier? Hätte ich mich von allem abgetrennt, woran mein Herz hängt, wenn ich an so etwas glauben dürfte?
Madeleine, die Frage, welche sie längst durch die Tat beantwortet hat, noch hin und her erwägend, hat sich noch nicht völlig entschieden, da sagt, in einem Tonfall, der verrät, daß er noch nicht lange den Stimmwechsel überstanden hat, Arthur mitten in ihre Überlegung hinein:
»Ich halte überhaupt nichts von Politik, wie sie jetzt betrieben wird, hab’ mich auch nicht von unseren Pseudo-Parteien unserer Pseudo-Wahlbewegung als Pseudo-Kandidaten aufstellen lassen. Sie wissen doch, Madame, daß wir hier in der Schule einen Wahlkampf hatten? …«
Madeleine fährt auf. Sie hat den Knaben völlig vergessen, sollte sie indessen, während sie in ihre Heimat entrückt war, ihm Rede und Antwort gestanden haben? Sich zusammenraffend sagt sie: »Knapp vor meiner Ankunft, nicht wahr? Ich glaube noch die Überreste einiger Werbebilder und Schlagwörter an den Wänden gesehen zu haben, konnte aber den tieferen Sinn und die Absicht dieser Bemühung nicht recht herausfinden, da doch gleich nach dem Wahlgang alles fortgeblasen zu sein schien. Was also steckte dahinter?«
»Ein Experiment meines Vaters, der meint, man könnte nicht früh genug politisiert werden, und wenn man die Achtzehnjährigen ungefragt ins Heer, in die Bergwerke und Munitionsfabriken steckt, müßte man die Sechzehn- und Siebzehnjährigen darauf bringen, eine gefestigte politische Meinung zu bekommen. Er findet es gar nicht bedenklich, wenn man mit Schlagworten umgeht, ehe man weiß, wofür sie stehen, desto besser wird man, von keinerlei Sachkenntnis angekränkelt – wie Tristan sagt –, zur Abrichtung geeignet sein! Ich hatte mit dem Papa darüber eine etwas stürmische Auseinandersetzung, aber freilich versteh’ ich nichts davon (das ist just meine eigene Meinung, und deshalb hab’ ich nicht mitgetan) und sollte, wenn ich mich schon einmal weder von den Konservativen noch von den pazifistischen Sozialisten – von den Kommunisten nicht zu reden, die hab’ ich dem Golliwog überlassen – als Kandidaten aufstellen lassen wollte, mich doch wenigstens auf meine Universitätsprüfung vorbereiten. Für meine Eltern beginnt der Mensch nämlich erst bei einem akademischen Diplom. Wie denken Sie darüber, Madame?«
»Nicht ganz so wie Ihre Eltern, scheint mir; ich finde, es kommt in allem und jedem darauf an, was immer man tut, ordentlich und so gut wie möglich zu machen. lch ziehe gewiß einen tüchtigen Handwerker jemandem mit einer löcherigen Universitätsbildung vor, in Ihrem Fall aber, Arthur, liegt die Frage doch wohl so, daß Sie etwas Begonnenes auch zu Ende – oder zu einem Abschluß bringen sollten, was immer man angefangen hat, sollte man nicht als Stückwerk zurücklassen. Und da Sie die Reifeprüfung für fast jeden Beruf als Voraussetzung brauchen werden, möchte ich sie an Ihrer Stelle weder unnötig lang hinausschieben noch mit ungenügender Vorbereitung ablegen. Je früher Sie darüber hinwegkommen und je sicherer und beruhigter sie darangehen, desto angenehmer für Sie. Und wenn ich auf etwas Persönliches kommen darf: Ich sähe Sie gern öfter als bloß einmal wöchentlich im Französischen Zimmer. Haben Sie denn gar keine Zeit für mich? Geben Ihnen die Kühe wirklich so viel zu schaffen?«
»Die acht scheinen mir immerhin wichtiger als die vier Konjugationen, sie sind wenigstens etwas Lebendiges!«
»Auch eine Sprache ist, richtig begriffen, etwas Lebendiges, Arthur, doch darüber wollen wir uns jetzt nicht auseinandersetzen. Etwas anderes aber: Wollten Sie künftig wirklich nach Frankreich, um dort Landwirtschaft zu studieren, dann möchte ich Ihnen vorher einen Wink geben: Wir Franzosen sind in diesem Punkt sehr empfindlich. Kann einer mit uns in unserer Sprache umgehen, dann sehen wir das als eine uns persönlich erwiesene Aufmerksamkeit an, er hat von vornherein gewonnenes Spiel und darf unseres Entgegenkommens, unseres Beistandes gewiß, sein. Sie scheinen mir doch zu vernünftig, als daß Sie bloß aus Widerspruchsgeist und Eigensinn ihren eigenen Absichten und Wünschen im Wege stehen wollten. Also?«
»Ich will mir’s gesagt sein lassen, Madame.«
Madeleine fährt jäh aus dem Schlaf, geweckt durch ein ihr wohlbekanntes, eigentümliches und unverwechselbares Geräusch, das hervorgerufen wird durch hastiges Umwenden großer Zeitungsblätter. Wer raschelt denn da? Es muß noch sehr früh sein; ist es bereits eine heutige Zeitung, ist die Post schon gekommen? Schwerlich, noch fällt kein Lichtstrahl durch das brüchige Gewebe des schadhaften Rollvorhangs. Dann wendet sie den Blick der Richtung des Geräusches zu: dort, ihrem Bett gegenüber, vor dem Kamin, wo ein schüchternes Feuer vorsichtig zu flackern beginnt, steht ein mächtiger Lehnstuhl, mit Genueser Samt in einem verschossenen Erdbeerrot überzogen, darin, durch die hohe Lehne und die abstehenden Ohren des Sessels von der einen, durch ein großes Zeitungsblatt von der anderen Seite vor Madeleines Auge verborgen, bewegt sich jemand: leicht zu erraten, wer …
– Sonderbar – denkt sie –, daß ich diesen Kamin bis jetzt so völlig übersehen habe, er macht das kahle Zimmer gleich traulicher. Zwar heizen sie hierzulande auch offene Feuerstellen mit Kohle, aber jedes lebendige Feuer ist doch besser als das unsichtbare im Füllofen, der die Wärme durch tote Röhren weiterleitet. –
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