Martina Wied - Das Krähennest

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Eigentlich ist Kunstgeschichte das Spezialgebiet der französischen Dozentin Madeleine de la Tour, doch mitten im Zweiten Weltkrieg nimmt sie eine Stelle als Sprachlehrerin in einem englischen Internat an. Die Schule wurde vor den deutschen Bombardements aufs Land evakuiert und wird vom liberalen Direktor Leontes unkonventionell geleitet. Madeleine versucht sich einzugewöhnen, mit dem Herzen bleibt sie aber ihrem alten Leben verbunden: mit dem von den Nazis besetzten Paris und ihrem ehemaligen Geliebten Ernest, einem prominenten Schriftsteller, der mittlerweile mit den Nationalsozialisten kollaboriert. Madeleine hadert, ob sie nicht doch hätte bleiben müssen, um gegen das Regime zu kämpfen. Andere Freunde geben in der Schweiz eine Emigrantenzeitschrift heraus und sind nicht weniger irritiert über Ernests politische Kehrtwendung. Doch auch im «Krähennest» überschlagen sich die Ereignisse zusehends …

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MARTINA

WIED

DAS KRÄHENNEST

ROMAN

BEGEBNISSE AUF VERSCHIEDENEN EBENEN

Herausgegeben und mit einem

Nachwort von Evelyne Polt-Heinzl

INHALT I Die Flucht I II Das große Welttheater und II III das kleine - фото 1

INHALT

I Die Flucht I

II Das große Welttheater und II

III … das kleine Haustheater

IV Der Knoten schürzt sich

V Irregang

VI Verräter

VII Die Stadt aus Glas

VIII Der Aufbruch

IX Das Attentat

X Scheiden vom Krähennest

Nachwort

Impressum

Begonnen am Weißen Sonntag 1944 .

in Wincanton, Somerset, England .

Beendet am Gründonnerstag 1948

in Llandudno, North-Wales .

Dieses Buch, entstanden in den Jahren ,

da wir beide voneinander getrennt waren ,

ist meinem Sohn HANNO zugeeignet .

»Die Krähen schrein

Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:

Bald wird es schnein –

Weh dem, der keine Heimat hat!«

Nietzsche

I

1

Niemand hatte sich vorgestellt, daß die Übersiedlung so große – so unabsehliche Folgen mit sich führen würde. Im ersten Augenblick, als Leontes die erlösende Nachricht brachte, er habe etwas Geeignetes gefunden, ein Landgut mittlerer Größe, wo die Wohngebäude zwar nicht Raum genug für alle Kostschüler, die Gründe aber ausgiebigen Platz zur Errichtung von Notstandsbauten und Baracken boten, und er habe diesen Besitz nicht etwa nur gepachtet, sondern käuflich erworben – da schallte ihm allgemeiner Jubel entgegen. Wie unbeliebt der Prinzipal auch bei der Mehrzahl seiner Zöglinge, von den Lehrern ganz zu schweigen, sein mochte, jetzt hätte ihn jeder und jede umarmen wollen; denn alle waren, wie verschieden auch sonst im Seelischen und Geistigen, an Charakter und Widerstandskraft, nur mehr von einem einzigen Gedanken besessen: Fort von hier! Fort von den pfeifenden, schmetternden, berstenden, erflammenden Bomben – den knisternden und krachenden, »sprechenden« Mauern, den zerspringenden, splitternden, zu Boden prasselnden Fensterscheiben, dem dumpfen Hummelsummen kreisender Schutzflugzeuge, dem Knattern der Abwehrgeschütze, den lichtlosen, luftlosen, schimmelfeuchten Kellern, wo sie nun seit Wochen bereits ihre angsttraumerfüllten Nächte verbrachten.

Am Anfang war auch alles wunderschön, nahezu vollkommen. Wem das Haupthaus unter dem zierlichen Balusterdach keine Unterkunft mehr bot, der fand sie in den ehemaligen Stallungen, und waren auch diese – Sattelraum, Pferdeschwemme und die darüber liegenden, unter dem vorigen Besitzer seinen Reitknechten zugewiesenen Zimmerchen – besetzt, dann verfiel Leontes auf den Ausweg, Karawanen teils zu kaufen, teils zu mieten. Er brüstete sich nicht wenig mit dieser Erwerbung, denn er war keineswegs als der einzige auf die farbigen Reisewagen erpicht: Benachteiligte, die kein Landhaus besaßen, oder eines in gefährdeter Gegend, richteten sich häuslich im Wohnwagen ein, ausgediente Automobile, die sich schamhaft in abgelegenen Garagen verbargen, wurden aufgestöbert, zu Phantasiepreisen angekauft, notdürftig repariert, mit neuen Reifen versehen und vor die Zigeunerheimstätten höherer Ordnung gespannt: »So, jetzt mögen sie kommen, wir fahren ihnen einfach davon!«

Langsam aber meldeten sich, die ursprüngliche Begeisterung übertönend und sie mählich verdrängend, Zweifel, Unbehagen, Überdruß: Die Landschaft war nüchtern und kunstlos, ohne überraschende Einfälle, ohne den Zauber des Abstand haltenden Großartigen – ohne den bescheidenen Reiz des nahen anschmiegsam Zierlichen, auf das eiligste und wohlfeilste zusammengestoppelt, gerade nur für bescheidene Ansprüche und unverwöhnte Augen, schlicht wie die Notstandsbauten des »Lavendelhofes«, dessen duftiger Name von den Tatsachen Lügen gestraft wurde.

Nicht alle Karawanen waren elektrisch beleuchtet, nicht alle Zimmer und Schlafsäle durch die offenen Feuerstellen genügend erwärmt, nicht jeden Tag waren die Mahlzeiten genießbar, nicht immer fanden sich die Zöglinge damit ab, in Brot und Milch, beides zum Überfluß vorhanden, ausreichenden Ersatz für den Mangel an sorgfältig zubereiteter warmer Kost zu sehen. Schüler und Lehrstab teilten sich fortan in zwei Gruppen: Nörgler und begeistert Zustimmende – und wie oft in den nächsten Jahren auch Zöglinge und Professoren wechselten –, diese beiden Gruppen blieben im gleichen Verhältnis und in nahezu derselben Anzahl dauernd bestehen.

Allerdings würde, wer immer unsichtbar ein Gespräch der Buben oder Mädel zu belauschen die Möglichkeit gehabt hätte, sich ein ganz falsches Bild von dem Eigentlichen ihrer Beschwerden und Klagen gemacht haben. Die rauchenden Petroleumlampen in mehreren der altmodischen Karawanen, die unzureichende Verdunkelungsmethode, welche Leontes nahezu allabendlich veranlaßte, in irgendeinem der Dormitorien die Birnen abzuschrauben und die Halbwüchsigen – Burschen wie Mädel – um neun Uhr schon, wie die ganz Kleinen, zur Dunkelhaft zu verurteilen, das lieblos zusammengehaute, unschmackhafte Essen, die Ödnis der Gründe, die doch früher einen wohlgepflegten, farbig aufgehellten Park getragen hatten –, dies alles waren nichts anderes als Vorwände, dahinter sich Tieferes verbarg. Die Télème-Abtei-Schule, jetzt auf dem Lavendelhof den Gefahren, die sie am Rande der Großstadt bedroht hatten, ausgewichen, beherbergte und betreute Schüler und Schülerinnen, deren geistige Ansprüche, nach Abstammung und Begabung, hoch über dem Durchschnitt zu suchen waren. Ihre Nerven waren es bloß, die nachgegeben hatten, ihre Geräuschempfindlichkeit konnte die lärmend verstörten Nächte nicht mehr ertragen; ihr eigentliches Wesen aber verlangte und suchte die Gefahr, sie war ihnen Ansporn, um Tapferkeit, Selbstbeherrschung, Geistesgegenwart zu beweisen, war ein spannendes Abenteuer, ergab die Möglichkeit, bisher unerlebte Situationen nach persönlichen Eigenheiten und seelischem Bedürfnis umzuleben, umzuformen, umzudichten; sie erteilte Erlaubnis, über die Grenzen des Gestatteten hinauszulangen in das Reich des Geheimnisvollen, des Verbotenen.

Auf dem Lavendelhof aber war alles überschaubar, offensichtlich, man lebte in einer Art von Glashaus, das zwar nicht klirrend zersplitterte, im gleichnishaften Sinn aber die jungen Seelen dessen beraubte, woran ihnen am meisten gelegen war: der Unberührbarkeit ihrer keuschen – wenn auch keineswegs vor dem Kühnen, ja nahezu Lasterhaften zurückschreckenden – Knospenseele. Nun ist die menschliche Natur aber so beschaffen, daß sie sich, was ihr von außen versagt und vorenthalten wird, aus eigenem zeugt. Auf dem Lavendelhof gab es keine Gefahr, das tägliche Dasein lief, bei aller Dürftigkeit, welche durch die Bewirtschaftung lebenswichtiger Nahrungs- und Genußmittel unumgänglich wurde, wie auf gutgeölten Rädern hin: gleichförmig, vorausberechenbar, tödlich langweilig. Dagegen empörte sich der Organismus der jungen Menschen, die sich zu einer noch nicht genau bestimmten und festumschriebenen – aber auf alle Fälle bedeutenden Leistung auserwählt fühlten; man durfte es ihnen, empfanden sie, nicht so leicht machen, mußte ihnen Bewährungsfristen, Kraftmesser bewilligen. Da dies von außen nicht mehr erreichbar war und sie von dem peinigenden Bewußtsein, daß sie in der ihnen zugeteilten Prüfung versagt hatten, schier aufgezehrt wurden, stellten sie ihren Körper auf eine harte, schmerzhafte und als Situation das Groteske und Tragikomische streifende Bewährungsprobe: Eine Seuche brach aus auf dem Lavendelhof, die alle Schüler und die meisten Lehrer – und nahezu im selben Augenblick – ergriff und seltsamerweise nur vor den Prinzipalen Halt machte.

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