Noch über etwas anderes wundert sich Madeleine: Wie kommt es denn, daß es mitten im Kriege in der Télème-Abtei eine solche Fülle junger, gutaussehender, hochgewachsener, anscheinend gesunder Lehrer gibt? Wie kommt’s, daß Horaz, sechs Fuß hoch, breitschultrig, brillenlos, wenn auch ungewöhnlich bleich von Antlitz, im »Krähennest« Latein, die Landessprache und Literaturgeschichte unterrichtet, statt in Italien oder Burma in Malariasümpfen zu kampieren? Gewiß aber ist diese Möglichkeit ihm jederzeit gegenwärtig und die Ursache, warum er einen ausgedienten Eisenbahnwagen als ihm gemäße Unterkunft ansieht. Sie ist der Grund, warum Lalage sich vor keiner Arbeit scheut und jede Unbequemlichkeit klaglos auf sich nimmt.
Wie nun ist er, wie sind die anderen – ›Tamino, der Flötenspieler und Griechischlehrer, Newton, der Physik und Chemie, Euklid, der Mathematik unterrichtet, Lysander, der, statt Archäologie zu treiben, kleinen Buben und Mädchen Holzschnitzen und Wachsfigurenkneten beibringt – wie sind sie alle, wie ist Tristan, dem Würgengel entgangen? Wahrscheinlich ist es ein gemeinsames Schicksal, ein gemeinsamer Glücksfall, der die Herzen hier so aufgelockert hat, daß in der Télème-Abtei jeder jedem gehört.
Da sie einander viermal täglich in den Speisesälen und unzählbar oft in den Höfen und auf den Gründen des Lavendelhofs begegnen, sollte man meinen, sie hätten bereits genug voneinander gesehen –» aber nein: Immer ist, wenn es halb neun schlägt, irgendwer bei irgendjemandem zu Gast. Einladungen können gar nicht früh genug festgesetzt werden, man müßte sich darauf vormerken, wie auf einen Theatersitz.
Vielleicht hängt diese ausgedehnte Geselligkeit damit zusammen, daß sie Vorwand ist, um einen Einzigen oder eine Einzige bei sich zu sehen, solange man nämlich einander noch nicht nah genug gekommen ist, um der anderen entraten zu können; eine Weile später wird jeder Vierte und Fünfte, der Dritte zumal, als Störung empfunden werden – und noch später wiederum sind die anderen nicht mehr bloßer Vorwand noch Störung, sie sind willkommen, man ist nun einander sicher, ist heimlich, zu ungesellschaftlicher Zeit, einander beigesellt, und nimmt zwischendurch wieder Interesse an anderem.
Madeleine kommt nach einiger Zeit darauf, daß es im »Krähennest« lauter Krähenpaare gibt, nicht nur unter den Schülern haben Florizel und Olivia, Fenton und Rosalind, Malcolm und die hüftenschwingende Jessica –, haben Bassanio und die liebliche Juliet, Benedikt und Beatrice, Arthur und Imogen zueinander gefunden, auch im Stab der Lehrer und Pflegerinnen, der Haus- und Landarbeiter, Köchinnen und Küchenmädchen ist man mehr und minder ernsthafte Bindungen eingegangen, wovon die meisten wohl binnen kurzem von anderen gleich ernsthaften abgelöst werden dürften, während einige sogar zur tragischen Folgerung der Ehe führen mögen.
Die Frage, die vor nicht ganz vier Jahren an der nämlichen Stelle von Jacques und Antonius auf etwas zynische Weise erwogen und erörtert wurde, hat jetzt die selbstverständlichste, die natürlichste Lösung gefunden. Auch jetzt gibt es im »Krähennest« einen ehrgeizigen jungen Lehrer, der schlechterdings mit nichts Geringerem als einer jungen Löwin zufriedenzustellen wäre – so hört es sich wenigstens an –, und doch leibt er bereits seit geraumer Zeit mit der leisesten, zurückhaltendsten, kühlsten und förmlichsten unter allen Krähennestlingen, mit Isabella, der Oberschwester, in stillschweigendem Einverständnis.
Die Befassung mit ihren heiteren, beglückenden und nur sehr selten, wie in Arthurs Fall, trübseligen und beunruhigenden Herzenssachen bindet die jungen Krähen an ihr Nest, sie wissen gut genug, nirgends ließe man ihnen ähnliche Freiheit, nirgendwo anders brächte man ihren Wünschen so viel Verständnis entgegen: Sie halten nämlich für Güte und Nachsicht, was bloß schlaue Berechnung ist!
»Solltest du nicht«, fragt Tristan mit verdächtiger Sanftmut seine Freundin Hermione, »in den neuen Prospekt die Ankündigung einfließen lassen: ›Für passende Liebschaften kann die Leitung zwar keine Gewähr übernehmen, doch leistet sie solchen, die sich in ihrem Wirkungskreis anspinnen, weitestgehenden Vorschub …‹?«
Hermione funkelt Tristan an: »Freilich paßt es dir nicht, daß Bassanio sich neuerdings so viel mit Juliet abgibt und daß Malcolm ganz überraschend der hüftenschwingenden Jessica nachläuft. Du möchtest eben deine Buben lieber für dich allein behalten, einzig«, fügt sie augenzwinkernd hinzu, »um sie in jener Askese zu bewahren, die allein der hohen Kunst gemäß ist.«
Tristan zuckt gleichmütig die Achseln, er ist an solche Eifersuchtsanwandlungen und Temperamentsausbrüche bei Hermione gewöhnt. Am besten ist es, sie gar nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Madeleine hätte in diesem nebelig-düsteren Land der triefenden Winter und der wässerig zerfließenden Sommersonne – im Lande der gotischen Kathedralen, der grauen Steinhecken und grauen Steindörfer mit den tief herabhängenden, pagodenartig geschwungenen Strohdächern, der schwelenden Laubscheiterhaufen und überhohen Schornsteine, deren Rauch von den tief niederwehenden Wolkenfederbüschen kaum mehr zu unterscheiden ist –, sie hätte in diesem Bereich der schweigsam-schwerfälligen Erwachsenen bei der Jugend nicht so viel unverbindliche Leichtherzigkeit erwartet, nicht solch ein Schmetterlingswesen in Liebesdingen.
In dem verwahrlosten Park, zwischen verfallenen Gutshäusern und eilig zusammengestoppelten Notstandsbaracken, längs der roh zusammengefügten Steinmauer, die da und dort von Efeu und gelb blühendem Winterjasmin freundlich übergrünt ist, kommen sie herabgeschritten, paarweis:
Die Jünglinge und Knaben grobbeschuht, in langen und weiten Hosen aus geripptem Samt, in allen Schattierungen des Laubes: von zartem Birkengrün zu dem schwärzlichen der Stechpalme, in allen Farben der Baumrinde, von Ahornsilber und Haselbraun zum Olivengrün der Eibe. Über dem farbigen Hemd, dessen zurückgeschlagener Kragen – einen zarten oder sehnigen Hals freigibt, tragen sie eine Holzfällerbluse aus Leder oder eine bunte Wolljacke, sie gehen barhaupt, die blonde oder braune Locke rechts oder links übers Auge fallend.
Die Mädchen sind alle nacktbeinig, viele auch bloßfüßig in luftigen Sandalen, manche tragen grobe Wollsocken zu derben, holzbesohlten Halbschuhen, ihre Röcke aus Baumwolle oder Cheviot sind kurz, die Wollschliefer oder Windjacken nachlässig übergeworfen, ihr lockiges oder straffes Haar fällt lang auf die Schultern hinab, bei wenigen nur ist es knabenhaft kurz gehalten; mehrere darunter sind lieblich, andere Teufelsschönheiten, einige jünglingshaft mager, andere vollbusig und wellenhüftig, jede aber ist mit einem bescheidenen Reiz ausgestattet, und zwar genau demjenigen, der Malcolm oder Lorenzo, Bassanio oder Laertes, Lancelot oder Hamlet, Florizel oder Benedikt – Herzklopfen verursacht.
Sie kommen über den lehmbraunen, überfluteten Weg, als gingen sie auf elysischen Gefilden, als berührten ihre Füße in dem groben Schuhwerk den schlammigen Boden kaum, und als wanderten sie jetzt nicht in ein abgenütztes, vernachlässigtes Haus mit ausgetretenen Holzstiegen, abbröckelndem Verputz, gesprungenen Wänden und rostigen Türschnallen hinüber, sondern als träten sie unter die hochgeschwungenen Schwibbogen ihres Luftschlosses ein, wo Puck und Ariel sie mit zarter Elfenkost bewirten.
Madeleine blickt ihnen nach, mit Rührung und heimlicher Trauer: bei solchem Anblick ist sie wieder siebzehnjährig – und zugleich durchtränkt, durchtränt von aller Erfahrung solcher, die immer mit ihrem Herzen gelebt haben. – Ihr beginnt zu früh – sagt sie sich –, Ihr verdammt euch dazu, vorzeitig, ehe Ihr euer Wesen kennt und für Bindungen reif seid, im engen Haushalt mit kleinlichem Pflichtenkreis eingefangen zu bleiben – oder Ihr kommt, gleichfalls vorzeitig, darauf, daß es nicht dauern kann, daß nichts dauern kann, gar nichts, und auch das ist schlimm, ist schlimmer, denn, wenn es beginnt, sollte man immer glauben, es könne nicht enden! Dann aber wird es für euch zum Gesellschaftsspiel, der Partner zu Tango und Foxtrott wird Liebespartner; er küßt, sobald die Musik abreißt, seiner Tänzerin die Innenfläche der linken Hand und fordert dann eine andere auf, wie auch sie sich einem anderen in die Arme gleiten läßt. Von einem zum anderen Mal wird es dünner, gewöhnlicher, reizloser, fadenscheiniger, man sollte nicht daran denken müssen, denn, trotz allem: Welch lieblicher Anblick! –
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