Heißt das, Du stelltest Dich, bis zur Selbstverleugnung, vollständig in den Dienst der neuen Herren? Es gibt mir die Sorge ein, wie es denn um jene Deiner Pläne steht, die wir noch zusammen durchgesprochen haben, ob Du inzwischen etwas davon ausgeführt, ob Du alle fallengelassen hast? Drückt sich der Umschwung in Deiner äußeren Existenz vielleicht in einer Stilwandlung und in einem ganz neuen Inhalt aus? Es liegt mir viel daran, zu erfahren, wo nun Dein geistiger Mittelpunkt liegt, wohin neue Flutungen Dich getragen, fortgeschwemmt, mitgerissen haben, wie Dein dichterisches Ich auf solche Bewegung antwortet, wie Du Deine Aufgaben – selbstgestellte nämlich, nicht solche, welche die fremden Meister Dir setzen – bewältigst, und ob Du, der vor dem Exil zurückschauderte, in Dir selbst daheim geblieben bist?
Ach, Ernest, ich hätt’ es ja so gern beschwiegen, hätte mich gern weiter darüber hinweggetäuscht: Was hilft es mir, daß ich’s versuche, meine alte brennende irdische Liebe zu Dir ins kühlleuchtend Übersinnliche zu verklären? Immer wieder, bei Tag, bei Nacht hab’ ich Dich vor mir, wissend, es ist ja nur ein von mir erschaffener Schemen – und es ist doch Deine Wirklichkeit, nach der es mich verlangt, nach jedem Haar auf Deinem Haupt, jeder Wimper an Deinen Lidern, jeder Runzel unter Deinem Auge, nach jedem Lächeln und jeder Zornesfalte! Wie Du lebst, möcht’ ich wissen, irdisch lebst, schläfst, arbeitest, Dich kleidest, speist, Deinen Tag ausfüllst, Deine Nächte zubringst. Dich möchte ich sehen, wie Du jetzt bist, in Deiner augenblicklichen schwierigen Lage: denn, nicht wahr, sogar Dir, der doch immer meisterlich Haltung und Würde zu wahren wußte, muß es jetzt bisweilen hart ankommen, nicht die Fassung zu verlieren und zwischen überschwenglicher Huldigung, die doch vielleicht nicht so sehr Deiner Persönlichkeit, Deinem Genius, wie Deiner praktischen Verwendbarkeit gilt, und maßlosem Haß – der doch, wer weiß, enttäuschter, gekränkter Liebe entstammen mag, Dein Gleichgewicht zu behaupten.
Ernest, ich möchte mich, da doch äußerlich alles andere zwischen uns jetzt aufgehört hat, wie eine Mutter über Dich beugen, Deine Schläfen zwischen meine Hände nehmen, Deine Stirn streicheln und Dir ins Ohr sagen: ›Trotz allem: sorg’ Dich nicht um mich, ich halt’ mich schon aufrecht, es tut ja nicht so weh …‹
Weil aber zuletzt doch wenig Aussicht besteht, dieser Brief könnte Dir je unter die Augen geraten, weil ich keine Möglichkeit sehe, ihn Dir zukommen zu lassen, ohne daß es Dir schadete – darf ich Dir’s schließlich eingestehen: Ich hab’ nicht vorausgewußt, daß es so weh tun könnte.
Nicht nur Fehlgriffe und Verbrechen, auch edelmütige Handlungen werden aus Mangel an Vorstellungskraft begangen, der Handelnde ist immer blind. Heute begreif’ ich’s gar nicht mehr, wie ich denn meinen Entschluß ausführen – wie ich’s über mich gewinnen konnte, mich von allem, was mein Leben ausmachte, zu scheiden und wie Alceste zu den Göttern ewiger Nacht hinabzusteigen. Aber es ist vollbracht – und alle meine Sorge dreht sich nur darum, wie ich denn mein Opfer sinnvoll zu machen vermöchte.
Niemand könnte einsamer sein, als ich es bin, keiner der alten Freunde – soweit sie noch erreichbar wären – kennt meinen Aufenthalt, und wer hier mit mir umgeht, weiß nicht, wer ich war, wer ich bin: eine Sprachlehrerin, die ihr Fach leidlich versteht. Auch wer mir hier Freundliches erweist, nimmt mit einer Gebrauchsausgabe der Madeleine vorlieb, wie ich mit einem Dasein, das, gegen mein früheres gehalten, unvergleichlich dürftig und unbequem ist. Mir bereitet es eher eine kleine Genugtuung, unter mir ein hartes Lager zu spüren, meinen Gaumen zu kasteien, meine Zunge zu züchtigen, meinem Auge und Ohr Fasten und Karenz aufzuerlegen, beinah’ genieße ich meine Entbehrungen.
Denn wie geringfügig sind sie zuletzt, an der einen großen, qualvollen Entbehrung gemessen: Es ist ein Antlitz, das ich nie mehr sehen werde, ein Auge, in das ich nie mehr meines versenken darf, eine Hand, die ich nie mehr festhalten, Lippen, die ich nie mehr berühren werde, es ist der Klang einer Stimme, einer einzigen Stimme, wonach mich so sehnlich verlangt, und hörte ich sie wieder wie neulich – sie zerrisse mir das Herz.«
»Können Sie mir vielleicht verraten, Horaz, warum Arthur meine Stunden geflissentlich schwänzt? In drei Wochen hab’ ich ihn nur dreimal im Französischen Zimmer gesehen, jedesmal Donnerstag zum Diktat, das er mir schließlich nicht einmal abgibt. Ich höre, er kommt im Juli zur Prüfung, das rührt an meine Verantwortlichkeit: Was fang’ ich nun mit ihm an?«
»Kein Grund, sich über Arthur aufzuregen, Madeleine. Er schwänzt Ihre Stunden nicht geflissentlich, sondern nur gewohnheitsmäßig, zu mir kommt er auch nicht. Die Prüfung wird er hinausschieben – und zuletzt gewiß nicht in Sprachen ablegen. Interessiert er sich überhaupt für etwas, dann noch am ehesten für Biologie und Chemie, weit stärker aber für Landwirtschaft; seine Lieblingsbeschäftigung ist, die Kühe zu melken. Alles andere langweilt ihn. Dazu kommt, daß er in seinem Liebeshandel – Sie wissen natürlich, wer es ist« (Madeleine weiß es nicht) »recht unglücklich ist, also mag ich ihn nicht auch noch quälen. Ja? Was gibt es denn, Lalage?«
Horaz beantwortet eine häusliche Frage seiner Frau, dann fährt er fort: »Schade, daß ein so, gesunder, natürlicher Bursch wie Arthur sich just dieses hysterische Mädel ausgesucht hat. Ja, ich weiß schon, Lalage, man kann in solchen Dingen nicht gut von ›Aussuchen‹ reden. Du hast recht, es hat ihn eben erwischt, und er ist nicht imstande, sich von ihr loszureißen. Eine fatale Anhänglichkeit, denn es gibt hier doch noch andere kleine Schönheiten mit einem unvergleichlich liebenswürdigeren Gemüt. Imogen aber benimmt sich wie eine ausgepichte Kokette und tut dann wiederum so unschuldig, als wüßte sie nicht, wie die Kinder zur Welt kommen.«
»Wie die Kinder nicht auf die Welt kommen, sagtest du wohl besser, Horaz, um die andere veraltete Frage kümmern sich unsere Buben und Mädel längst nicht mehr. Ich weiß nicht genau, wie weit hier so ein Gebändel zu gehen pflegt, gibt es hier aber einmal ein Malheur, dann gewiß nicht auf die übliche schlichte Art«, sagt Lalage im Verschwinden. Horaz der Jüngere hat nämlich eben sein Erwachen durch kräftiges Gebrüll angekündigt.
Madeleine ist ein für allemal nach Tisch zum Tee im Horazwagen eingeladen, der ist keine Karawane, sondern einer der ehemaligen Eisenbahnwaggons, die, erinnern wir uns, von Tristan bald nach seiner Ankunft innen und außen farbig angestrichen wurden und die später wohnungsmäßig eingerichtet worden sind.
Mit wie wenigem sich diese jungen Leute begnügen, wie bescheiden sie mit allem vorlieb nehmen, denkt Madeleine. Wie selbstverständlich besorgt Lalage jede Arbeit, die ihr durch die augenblicklichen Verhältnisse zugemutet wird! Auch Horaz läßt sich nämlich, wie Tristan, von seinen Schülern mit Haut und Haar verspeisen, auch er hat in seinem vorläufigen Daheim Abend für Abend die Mitbewohner der Wagen zu Gast, und Lalage, die doch tagsüber mit den Ansprüchen ihres lebhaften Söhnchens, seiner Fütterung, seinem Bad, seinen Säckchen, Spielhöschen und Jäckchen, weidlich beschäftigt ist, steht, sobald es acht Uhr geschlagen hat, in ihrer winzigen Küche, mit der Zubereitung belegter Brote und dem Aufgießen des Tees für ein hungriges Dutzend befaßt. Wann eigentlich findet sie Zeit für sich selbst, für Horaz?
Erstaunlich genug ist es, denkt Madeleine, daß diese jungen Menschen, die sich doch alle »agnostisch« nennen, Männer und Frauen, mit wortkarger, selbstverständlicher Mitmenschlichkeit in einer wahrhaft urchristlichen Gemeinschaft aufgehen, ohne sich auch nur den bescheidensten Rest persönlicher Abgeschlossenheit zu sichern.
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