Es kamen schwere Tage für die Familie; die Suppen wurden immer dünner, sie stillten den Hunger nicht. — Der Vater war wenig zu Hause. Täglich ging er zeitig aus, um Arbeit zu suchen. Er nahm sich als Wegzehrung zum Brote so viel Fleisch und Fett aus Agis Vorräten, dass diese beängstigend schwanden. Das letzte Schmalztöpfchen versteckte sie vor ihm, um doch etwas zum Suppenkochen zu haben.
Da suchte Agi aus dem wenigen Schmuck, der von der Grossmutter her da war, einige Granat- und Korallenschnüre zusammen und trug sie ins Versatzamt in der Kaiserstrasse. — Dort stand sie stundenlang vor den Schaltern herum, inmitten der langhin angereihten Kunden, in einer vom Hauch der Gasflammen und vom Schweiss der Harrenden übelriechenden Luft, bis die Reihe an sie kam. Der Schätzmeister prüfte die Goldschliessen ihrer Korallen- und Granatschnüre auf die Echtheit, indem er damit auf dem schwarzen Probierstein (Kieselschiefer) Striche machte, die er mit Scheidewasser (Salpetersäure) betupfte. Mit angehaltenem Atem starrte Agi auf die Probe und atmete erleichtert auf, als das Gelb sich nur wenig änderte. Aber schwer enttäuscht schaute sie dem Beamten ins Gesicht, als er ihre Kostbarkeiten zusammen nur mit drei und einem halben Gulden belehnte. Sie streckte die Hand nicht aus, um das Geld zu nehmen. Da schob er ihr’s hin und legte die unleserlich beschriebenen Versatzzettel dazu, die mit ihrem Adler und allerlei Zierdruck wie richtige Wertpapiere aussahen: „Ein Drittel vom Metallwert; aufs andere kriegen s’ nix.“ — Geschoben von den Nachdrängenden, raffte Agi die Zettel und das Geld zusammen und ging langsam der Stiege zu; dann aber eilte sie heim; sie musste heut noch einen Verdienst suchen und finden; sie musste dem Elend ein End’ machen. In Gedanken versunken, kämpfte sie gegen den Westwind an, der ihr Staub und Papierfetzen entgegentrieb, während schweres Gewölk den Himmel verdunkelte. Daheim fand sie die Mutter ausser Bett. Blass und matt, bewegte sie sich langsam im Zimmer hin; sie räumte auf. — Agi legte das geringe Ergebnis ihres schweren Ganges auf den Tisch: „Einen Gulden für Koja, das andre auf Brot.“ — „Sei froh, dass du nicht mehr bekommen hast; je weniger, desto eher können wir’s abzahlen; sonst werden unsere Pfänder verlizitiert.“ — Das leuchtete Agi ein. — Getröstet löffelte sie einen Teller Wassersuppe mit eingebrockten Brotrindeln aus, und suchte eilig alles, was ausser Kojas alten Lehrtexten an Büchern da war, zusammen, um es auf dem Dachboden zu verbergen. Die Bücher sollte der Vater nicht finden; die sollten der Not nicht zum Opfer fallen!
Obwohl es draussen zu regnen begonnen hatte, ging Agi aus dem Hause, um Arbeit zu suchen, geleitet von heissen, inbrünstigen Gebeten der Mutter. Sie war fest entschlossen, nicht früher heimzukehren, bis sie einen Verdienst gefunden hätte, bei dem sie die Mutter nicht allein zu lassen brauchte. Von Wind und Regen getrieben, ging sie rasch dahin, die Lippen fest geschlossen, mit den Augen die Schilder und Schaufenster der Geschäfte musternd. Wo sie eine Pfaidlerei b) sah, fragte sie an. So überquerte sie, watend im Strassenkot, den vom Schwerfuhrwerk zerfahrenen Neubaugürtel und bog zwischen den Resten des Linienwalles c) durch, am Zollamt vorbei in die Westbahnstrasse ein. Als sie dort in den grossen Geschäften keinen Erfolg erzielte, begann sie die Seitengassen abzugehen. Gequält vom Hunger, herb enttäuscht von jeder Abweisung, strebte sie vorwärts, getrieben von dem Gedanken: „Es gibt für mich Arbeit, so wie für tausend andre. Sie wartet auf mich, ich muss sie nur finden.“ — Nach langem Herumirren hatte sie zweimal den halben Erfolg erzielt, dass sie als Hilfsarbeiterin Beschäftigung gefunden hätte, das einemal als Spulerin in einer Strumpfwirkerei, das andremal als Auflegerin in einer Notendruckerei. Sie aber gab der Versuchung nicht nach; sie durfte die Mutter mit dem Kleinen nicht verlassen. Schon begann es zu dämmern. Agi wankte entkräftet dahin. Von den durchnässten Schuhen rieselte ein Frösteln durch ihren Leib. Da sah sie in der Seidengasse aus einem Geschäfte, in dessen Auslage Reis- und Kaffeeproben in Säcken feilgeboten wurden, eine ärmlich gekleidete Greisin auf die Gasse treten; die trug zwei grosse Bünde Sackleinen. Von einem Hustenanfall erschüttert, liess die Alte den einen Bund fallen. Agi hob ihn auf und gesellte sich zu ihr, die nur widerwillig und misstrauisch ihre Begleitung litt. „Geh’n S’ liefern?“ fragte Agi das arme Weib, dessen Husten in Röcheln übergegangen war. „Ah, belei’ d), dös kann i erst morgen auf d’ Nacht. A Dutzed Säck’ will g’naht sein. In weniger als ein’m Tag zwing’ i’s nit.“ — „Wann’s nur gut ’zahlt wird?“ versuchte Agi sie auszuforschen. Die Alte lachte heiser auf. „Vier Kreuzer für’s Stück.“ — Agi begann zu rechnen. Bei der nächsten Strassenecke machte sie kehrt. Sie suchte das Geschäft auf und fragte gleich nach dem Chef. Es war ein alter Herr, der sie trotz der stark vorspringenden Nase durch den Schnitt seines weissen „Kaiserbartes“ an den Herrn Prokop erinnerte. Sie fasste Zutrauen und schilderte ihm in hastigen Worten die Lage der Ihrigen. — „Vorläufig könnt’ ich Sie nur als Sacknäherin beschäftigen, ich lass halt auf Vorrat arbeiten; das wär’ aber besser eine Heimarbeit für Ihre Mutter. Wenn Sie da schräg hinübergehen in das Strickwarengeschäft, können Sie selbst lohnendere Beschäftigung haben.“ — Er schrieb einige Worte auf eine Geschäftskarte. Zeigen Sie meine Empfehlung vor, damit man Ihnen ohne Kaution e) Wolle anvertraut. Dann kommen Sie gleich zu mir zurück. Ich richt’ Ihnen derweil was für die Mutter.“ Als Agi nach wenigen Minuten wieder bei ihm eintrat, trug sie unterm Arm ein leichtes Bündel von zehn Strähnen schwarzer Mohair-Wolle, aus der eine grobe, lange hölzerne Häkelnadel ragte. „Was zahlt er Ihnen fürs Stück?“ fragte der alte Herr. — „Vierundsechzig Kreuzer.“ — „Das ist um vier Kreuzer mehr als er sonst für ein Kopftuch zu zahlen pflegt.“ Als Agi ihm dankte und ihn zugleich um die Sackleinwand für die Mutter bat, gab er zweifelnd zur Antwort: „Ja, können S’ denn das schleppen?“ — „Oh, wie gern!“ Fast jubelnd stiess sie es hervor.
In jeder Hand einen schweren Pack Sackleinen, unterm linken Arm das Päckchen Wolle eingeklemmt, stapfte Agi tapfer durch den Regen heim. Sie geriet auf die hell erleuchtete Mariahilferstrasse und drängte sich durch die Menschenmenge, die im Licht der Bogenlampen und der Auslagenbeleuchtung dahinwogte. Die Schnüre ihres Packes schnitten sie empfindlich in die Finger, aber sie achtete nicht darauf. Vor ihren Augen stand das Antlitz der Mutter, die unter Tränen lachen würde. Agi brachte Arbeit heim, Arbeit, Verdienst, Brot! Und es war ihr, als erlebte sie ein Kapitel der Geschichte eines Auswanderers, der sich in der bösen Übergangszeit zu Newyork als Schuhputzer oder Zeitungsausträger vor dem Verhungern noch gerettet, der aber dann immer bessere, immer lohnendere Arbeit gefunden, bis er so viel erspart hatte, dass er sich eine Farm hatte kaufen können, das Haus seiner Sehnsucht. Und sie dachte an Auerbachs Barfüssele, das Gänse gehütet und als Bauernmagd gedient hatte, bevor es ihm beschieden war, auf dem stattlichsten Hofe des Gaues als Herrin zu walten. Als sie vor der Mariahilfer Linie an dem durch seine Volkssänger berühmten Gasthaus „Zum Vogelsang“ vorbeikam, riss ihr ein Schuhband, das schon längst dünn gerieben war. Da musste sie haltmachen. Aus den offenen Oberlichtern der Gasthausfenster quoll ein warmer Hauch heraus, der, vom Wind gedrückt, ihr um Mund und Nase strich. Es war ein Duft von Bier, Bratensaft und Gulyas; davon wurde der Hungrigen fast übel. Und während sie das Schuhband knüpfte, hörte sie ungewollt eine Strophe des Wiener Couplets an, das von einer etwas schrillen Stimme vorgetragen wurde:
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