Als die Geschwister am nächsten Morgen von den Eltern Abschied nahmen, küsste Koja der Mutter die salzigen Tränen von Augen und Wangen: „Nicht weinen, Mutter; wenn die Agi mitgeht, kann’s nicht schief gehen!“
Der Tag verging der guten Mutter in Bangen und Hoffen. Erst mit dem letzten Zuge kam Agi heim, und — sie kam allein. In überstürzter Beredsamkeit, wie es sonst nicht ihr Brauch war, berichtete sie: „Beim Buchbinder Wiedreich hab’ ich ihn untergebracht, in der Herrengasse. In der schulfreien Zeit wird er arbeiten müssen, was sonst ein Lehrbub macht; aber mit ’m Kleisterpinsel kann er ja umgehen. Wie gut, dass er beim Melker Buchbinder schon was gelernt hat; sonst hätt’ ich ihn vielleicht wieder heimgebracht und mit’n Studieren wär’s derweil aus gewesen. Die Wohnung hat er umsonst; aber Kost können s’ ihm keine geben. Es sind fünf Kinder da; die Frau ist gut, der Herr auch; es sind aber arme Leut’. — Sie werden sich umschaun, dass sie ihm Kosttage verschaffen; sie haben schöne Kundschaften. Und ich hab’ dem Koja versprochen, dass er an jedem Samstag mit der Post einen Laib Brot kriegt und einen Brief; in dem muss ein Guldenzettel drin liegen, dass er sich die Woche über wenigstens Milch kaufen kann zum Frühstück; schon das schützt ihn vor dem Verhungern; das will und werd’ ich für ihn schaffen.“ Da zog die Mutter ihre liebe Agi an die Brust und tätschelte liebkosend mit der Rechten ihren Rücken. „Bist ihm halt eine gute, kluge Schwester, du; dass er in seinem dreizehnten Jahr in die Fremde muss, hat mir Kummer gemacht; aber er wird nicht verderben, gelt?“ — „Vor lauter Arbeit wird er nicht Zeit haben zum Dummheiten machen. In der schulfreien Tageszeit muss er in der Werkstatt arbeiten, nach ’m Nachtmahl muss er lernen. So kommt er in keine schlechte Gesellschaft.“ —
Wieder einmal war eine schwere Sorge gebannt. Koja studierte weiter. Ruhiger, als am Tage vorher, sahen Mutter und Agi in die Zukunft. Aber die nächsten Wochen waren schier entmutigend. Der Vater beschäftigungslos. Von der Post kamen kurze abschlägige Erledigungen der Stellengesuche. Agi, die wie selbstverständlich das Amt des Säckelwartes im Haus übernommen hatte, gab dem Vater, der nach dem tröstenden Biertrunk lechzte, kein Geld; seine Stimmung wurde eine verzweifelte. Da verkaufte er seinen zuletzt gefassten Uniformrock und verschaffte sich aus Sparsamkeit zunächst eine Flasche vom billigen Kornschnaps, der die Tröstung rascher und billiger bewirkte als Bier. Heimlich trank er und in kleinen Mengen, aber bald merkten es Mutter und Agi zu ihrem Entsetzen: Der Vater trank Schnaps! — Da brachte der Postbote eines Morgens einen Brief von der Betriebsleitung Zalaudeks. Lorent sollte den Dienst als Stellwagenschaffner in fünf Tagen antreten. Ein befreundeter Westbahnschaffner fand für die Lorentischen in Wien eine Wohnung und beangabte sie. Das Scheiden aus dem liebgewordenen Prokophause wurde ein überstürztes. Beim Packen der Kisten und Möbel fluchte der Vater, die Mutter weinte. Agi war von früh bis abends unterwegs, um in ihrem Kundenkreise Notverkäufe durchzuführen, denn die Übersiedlung kostete Geld. Getrieben von der unerbittlichen Notwendigkeit, machte sie alles Geschäftliche kurz und trocken ab; dem bittern Weh, das ihre Seele erfüllte, so oft sie sich von einem lieben Bilde oder Geräte trennte, gab sie keinen Ausdruck. Sie liess auch ihre Augen nicht feucht werden, als sie von der Ziegen Abschied nahm. Dem treuen Dschogg verschaffte sie beim Fleischhauer Lechner einen guten Platz. Den Kater brachte sie der Übleisin zurück. Altes Gerät gab sie dem Hauswart fürs Helfen beim Übersiedeln; von ihm liess sie das Geflügel schlachten. Sie salzte, würzte und briet das Fleisch, füllte es in Töpfe, und goss ein heisses Gemenge von Schweinefett, Gänse- und Entenschmalz darüber. Dann verband sie die Gefässe mit eingewässertem Pergamentpapier, damit das Fleisch, zweifach von der Luft abgeschlossen, monatelang geniessbar bliebe.
In diesen Tagen brachte die Post ein Päckchen aus der Hinterlassenschaft der Grossmutter; es waren alte Kleider und einige Schmucksachen, darunter ein hohles Goldkreuz. Kein Geld. Wenn Agi abends am Bett der Mutter sass, sprach sie in ihrer altklugen Weise von Koja, der ja geborgen war und der nach den sorgenvollen Studienjahren ihnen allen viel Freude bereiten würde. Lebhaft und anschaulich schilderte sie das Haus der Sehnsucht, mit Gärten und Wiesen und Äckern und Wald. Lächelnd lauschte die Mutter, als hörte sie ein Märchen. „Nicht so arm, als wir aus der Neudamühle gegangen sind, ziehen wir aus dem Prokophaus. — Wir haben Mehl, Kartoffeln, Fleisch und Fett auf ein paar Monate in Vorrat, und Bücher haben wir und Geld. Und der Vater hat eine Stelle, die wenigstens ihn nähren wird. Wir haben beide im Nähen zugelernt und werden in Wien schon verdienen; dort gibt’s ja genug feine Kundschaften. Und Koja wird vom Herbst an in Wien weiterstudieren. Gelt, Mutter, wir halten brav durch, bis er fertig ist.“ Still hörte die Mutter zu und stimmte ihr bei: „Von der Prophezeiung der Schwammerliesel geht wieder etwas in Erfüllung. Wir reisen jetzt bald in die Fremde, dann wird’s noch eine Zeitlang Sorgen geben, manchmal auch Tränen, aber schliesslich folgt die Freud, viel Freud.“ —
Am nächsten Morgen stiegen die Lorentischen in ein Wagenabteil des gemischten Zuges, dem ihr Möbelwagen angekoppelt worden war. Das erste Läuten war vorbei. Da erscholl vom Bahnhofsteig ein scharfes, hohes Kläffen; am Türsteher vorbei stürmte Dschogg und sprang, die Kette hinter sich herschleifend, die Stufen des Wagens hinan. Winselnd vor Freude, begrüsste er jeden Einzelnen. Die Mutter begann laut zu schluchzen, und auch den anderen wurden die Augen feucht. Noch vor dem dritten Läuten m) erreichte der Fleischergesell, atemlos vom Laufen, den Ausreisser und zerrte ihn an der Kette mit sich fort. Das Abfahrtläuten erscholl; ein schriller Pfiff, ein Ruck an den Verbindungsketten der Wagen, ein Aneinanderschlagen der Puffer, und der Zug setzte sich in Bewegung.
Im Widerglanz der Morgensonne, wie es Koja so oft gesehen hatte, flammten wieder die langen Fensterreihen des Stiftes, als der Zug an Melk vorbeifuhr. Da zog Agi ihr Taschentuch hervor und winkte hinüber, sie gedachte der Professoren Albert und Gabriel, die auch ans Gute im Wesen ihres Bruders glaubten. Und sie erneuerte in sich das Gelöbnis, diese schicksalschaffende Meinung wahr zu machen. Einen bedeutungsvollen Blick sandte sie zur Mutter hinüber, die, den Säugling an der Brust, unter Tränen zu ihr herüberlächelte. Der ihr gegenübersitzende Vater suchte ohne Rücksicht auf das Kind seinen Groll und seine Sorgen im Tabaksqualm seiner Holzpfeife zu ersticken. Der Zug fuhr in den Tunnel des Sandsteinberges vor Loosdorf ein; die schöne Heimat lag hinter der Familie. Lachend im Sonnenschein, der gelbleuchtend auf der Schneedecke der Hügel und Felder flimmerte, tauchte die Fremde vor ihnen auf. Vorüber am Schloss Schallaburg und der vom Abhang des Dunkelsteiner Waldes herniedergrüssenden Osterburg, ging die Fahrt auf St. Pölten zu, wo Koja zur selben Stunde im Gymnasium sass. Wie friedvoll war die winterliche Welt, wie lieblich das hügelige Gelände, in dessen Bachtälern freundliche Ortschaften mit ihren roten Ziegeldächern eingebettet lagen. Überall kräuselten sich bläuliche Rauchsäulen empor, die, von keinem Windhauch gedrückt, erst in der Höhe der Zwiebeltürme n) der Dorfkirchen zerstoben.
Die Abschiedsstimmung war überwunden. Der sonnige Tag weckte stille Zuversicht in den Herzen der Reisenden. — Agi öffnete den Esskorb und verteilte mit hausmütterlichem Eifer den Imbiss, Brot und Gänsebraten, darnach den unvermeidlichen Kaffee. Leise plaudernd, näherten sie sich in zuversichtlicher Stimmung ihrem Ziele. — Je weiter sie durch den Wiener Wald aufwärts fuhren, desto mehr füllte sich der Zug mit ländlichen Fahrgästen, die in den Haltestellen und Stationen mit Eierkörben und grossen, blechernen Milchkannen einstiegen. Auch zur Familie Lorent kamen zwei Bäuerinnen und besetzten die Mitte des Abteils. Ihr eintöniges, überlautes Reden störte gar sehr das Behagen der Fahrenden. Mutter und Agi horchten unwillkürlich. Die eine Bäuerin erzählte von ihrem Sohne, der in Wien Uhrmachergeselle war und ein armes Mädel geheiratet hatte. „Und jetzt sitzen s’ im Elend. Zwölf Gulden Wochenverdienst. Vier Kinder. In Ottakring haben s’ eine kleine Armeleut-Wohnung, nur Zimmer, Kammer und Küche. Der Lohn reicht kaum aufs Essen. Die Kammer haben s’ an einen Metalldreher vermietet, der zahlt dafür samt Bedienung und Frühstück fünfzehn Gulden monatlich; das ist grad der Wohnungszins. Weil’s aber auf Schuh und G’wand nit langt, haben s’ in der Küche einen zweiten Arbeiter als Bettgeher. Und die sechse hausen, essen und schlafen alle miteinander in dem ein’ Zimmer. Die Frau ist schon ganz krank; und wie schaun die Kinder aus! A’ Glück nur, dass mein Sohn nit trinkt — und dass ich doch ein bissel nachhelfen kann mit Erdäpfeln, Milch und Eiern; sonst wären’s schon lang schwindsüchtig ...“
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