Die Scharlachferien waren vorbei. An einem wundermilden Wintermorgen, der durch leisen, grossflockigen Schneefall verschönert wurde, fuhr Koja wieder zur Schule. — Dass die Seuche überwunden worden war, ohne ein Leben gefordert zu haben, gestaltete den Unterrichtsbeginn zu einem freudigen Wiedersehensfest. Aus lange nicht mehr empfundener Lernfreudigkeit wurde Koja mitten in der Griechisch-Stunde herausgerissen. Der Schuldiener trat in die Klasse: „Der Herr Direktor lassen um den Schüler Kajetan Lorent bitten.“ — Professor Albert schob sich mit beiden Händen die Brille zurecht: „Ja, haben Sie denn schon wieder was ang’stellt?“ — Koja, dem der Schreck die Kehle zuschnürte, bejahte mit einem ruckartigen Kopfnicken, dann stiess er mit gepresster Stimme hervor: „Ich hab’ die Rumpel der Frau Ratz zerstochen.“ — Ein Kichern ging durch die Klasse. Auch Albert musste lächeln. „Die werden S’ halt müssen zum Spengler geben — und machen Sie sich auf ein paar Stunden Karzer gefasst. Mit der Zeit werden S’ schon g’scheiter werden; jetzt stecken S’ halt grad in den Flegeljahren.“ — Als Koja nach einer Viertelstunde vom Verhör zurückkam, war er kreidebleich und wankte zu seinem Platz wie ein Trunkener. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen. Still und stossweise schluchzend sass er da. In ehrlichem Mitleid ruhten auf ihm die Augen seines Lehrers, der durch Wiederaufnahme des Unterrichts die Aufmerksamkeit der Schüler von Koja abzuwenden suchte. Erst nach Unterrichtsschluss zog er ihn wieder, wie einst, in die Nische eines Gangfensters und erfragte von ihm das Entsetzliche: Die Frau Ratz hatte nicht nur die zerbrochene Rumpel als „corpus delicti“ vorgelegt; sie hatte Koja beim Direktor verleumdet, dass er in Pöchlarn von seinen Professoren in gemeinster Weise übelgeredet hätte. Der Direktor hatte ihr Glauben geschenkt; Koja hatte die Beschädigung der Waschmaschine zugestanden. Sein Versuch, die Lügen der sehr ernst und anständig scheinenden Frau zu entkräften, hatte ihm nichts geholfen; der Direktor hatte ihm vorgehalten, die eingestandene Beschädigung fremden Eigentums wäre eine Büberei, übrigens sei Koja schon vorbestraft und hätte sich der im Vorjahre erfahrenen Nachsicht unwürdig erwiesen; wie könnte er jetzt verlangen, dass man ihm mehr glaubte als der gebildeten Frau? Mit dem Rate, die Anstalt zu verlassen, hatte ihn der Direktor weggeschickt. — Professor Alberts Stirne legte sich in Falten. Die Lage war ernst. Er versprach dem ganz Verzagten, sich für ihn einzusetzen, und getröstet fuhr Koja heim. Er wollte Agi und Mutter in alles einweihen, um sie wenigstens auf die unvermeidliche Sittennote vorzubereiten. Aber daheim gab’s herberen Kummer, der Koja schweigen liess: der Vater war seines Dienstes vorläufig enthoben. Seit Stunden lag er auf dem Divan, das Gesicht zur Wand gekehrt und qualmte aus seiner Holzpfeife. Was die Mutter von anderen über den Anlass erfahren hatte, war ganz und gar trostlos: In Kienberg war zwischen der Ankunft und der Rückfahrt des Personenzuges eine Pause von vier Stunden gewesen. Die hatte Lorent benützt, um sich gründlich zu stärken; er war ja ausser Dienst. Im Zustande der Volltrunkenheit hatte er die Rückfahrt antreten wollen. Beim Überschreiten des Bahngeleises war er gestolpert und der Länge nach hingefallen. Als der Zugführer Ratz ihn aufzurichten versuchte und dabei laut schimpfte, um die Sache recht auffällig zu machen, fasste ihn Lorent mit der Linken beim langen Vollbart und schlug ihn mit der rechten Hand ins Gesicht, wobei er unablässig schrie: „Hab’ ich dich endlich, du schwarzer Judas, du, du!“ — Lorent wurde vom Verschieber und Heizer überwältigt und als verkehrsgefährlich vom Dienste ausgeschieden. In einem leeren Wagenabteil schlief er während der Fahrt nach Pöchlarn seinen Rausch aus.
Acht bange Tage vergingen. Das Disziplinarverfahren gegen Lorent endete mit der endgültigen Entlassung gerade an dem Tage, als sein Weib eines schwächlichen Knäbleins genas. In der Taufe erhielt der in der Zeit des dritten wirtschaftlichen Zusammenbruches Geborene den Namen Rudolf. l) Agis mutterhaftes Bedürfnis nach Hegung und Betreuung anderer hatte nun Gelegenheit, sich in einer Weise zu betätigen, die Koja in der Anschauung bestärkte, sie war’ eine Heilige von unerschöpflicher Kraft. Sie pflegte die Mutter und das Brüderchen und versah die Hauswirtschaft unermüdlich, unverdrossen. Dazwischen griff sie zur Nadel. Dem völlig niedergebrochenen Vater wurde sie eine ernste Beraterin, die mit ihm neue Verdienstmöglichkeiten erwog. Eine Zumutung aber wies sie entschieden zurück: nämlich die Hilfe der Verwandten oder des Herrn Prokop in Anspruch zu nehmen; wie sollte der noch einmal für Vaters Verwendbarkeit bürgen? Mit dem Oberlehrer und ihren Kunden beriet sie sich, wohin sie Stellengesuche zu richten hätte. Die meiste Hoffnung setzte sie auf ein Gesuch, das ein ehemaliger Revisor der Wiener Stellwagenunternehmung Zalaudek ihr befürwortet hatte. Aber es konnten Monate vergehen, bis der Vater in Wien die Stelle eines Stellwagenschaffners antreten konnte. — Was sollte indes mit Koja geschehen? — Vom Bruder ins Vertrauen gezogen, erwirkte Agi beim Gymnasialdirektor durch Bitten und Vorstellungen, dass Koja auf sein Semesterzeugnis die gewöhnliche Abgangsklausel erhielt: „Schüler Kajetan Lorent hat seinen Abgang aus der hierortigen Anstalt ordnungsmässig gemeldet; seiner Aufnahme in eine andere Anstalt steht nichts im Wege.“
Was nun? Die Mutter sah keine Möglichkeit, wie Koja das Studium fortsetzen könnte und gab Agi zu bedenken, ob es nicht doch besser wäre, ihn zu einem Schlosser in die Lehre zu geben, damit er später Maschinenführer würde. Agi aber, die in einer an Starrsinn grenzenden Treue am Vorhaben festhielt, wendete ein: „Maschinenführer sein wär’ gut, aber wenn er sich dann dem Trunke hingäb’ wie der Vater?“ — „Kind, es gibt auch Ärzte, die schwere Trinker sind.“ — „Wenn er aber Medizin studiert und vor allem lernt, was die Menschen krank macht, wird er doch leichter widerstehen.“ — Das leuchtete der Mutter ein, aber wo sollte Koja studieren und wovon? — Da erklärte Agi, sie werde mit ihm nach St. Pölten fahren. Die Einschreibgebühr hatte sie. Wovon sie ihm Wohnung und Kost zahlen sollte, wusste sie noch nicht; — aber die Vielbelesene gedachte der oft ganz abenteuerlichen Art, wie mancher später bedeutend gewordene Mann sich erst als armer Student durchs Leben geschlagen hatte. Warum sollte es nicht auch für Koja eine Möglichkeit geben? Vielleicht fand sich an Ort und Stelle für ihn eine Gelegenheit, wie er sich Wohnung und Kost erarbeiten konnte, vielleicht war in der grossen Stadt ein guter, wohlhabender Mann, der sich seiner annahm. Hatte sich nicht Herr Prokop wie ein rettender Engel eingefunden, hatte er nicht dem Vater die Anstellung bei der Bahn verschafft und der ganzen Familie ein Obdach gegeben, für das sie einen lächerlich geringen Anerkennungszins zahlte? — Suchen wollte sie mit dem Spürsinn der fürsorgenden Liebe. Der betenden Mutter segnende Gedanken würden ja überall mit ihr sein. — Wie Agi einst ihrem Brüderchen die erste Wandertasche genäht hatte, so nähte sie ihm jetzt aus einem Stück Leinwand, zu der die Sonnleitner-Grossmutter den Lein gesät und den Flachs gesponnen hatte, einen Reise-Wickel. Der war nichts anderes, als ein grosses Blatt, dessen Innenseite mit Fächern benäht war, und das auf der Aussenseite Bänder hatte. Die Ränder versteifte sie hübsch mit Säumen aus roten Hanfbändern, das Innere durch Einlegen eines alten Zeichenblockdeckels. Die grünen umspannenden Gurten und den Traggurt versah sie mit Schnallen. Fiebernd vor Freude, als gelte es eine Vergnügungsfahrt, packte Koja etwas Wäsche, einen halben Laib Brot und eine Blechbüchse mit Fett in den Reisesack, der in der Zier seiner roten Ränder und grünen Bänder gar schmuck aussah. Und was Agi an Kleingeld hatte, steckte sie dem Bruder zu.
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